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zum Thema Zeitungsartikel über die Mormonen
Seite erstellt am 26.4.24 um 7:40 Uhr
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der Beitrag:
Verfasser: Gunar
Datum: Samstag, den 16. Februar 2002, um 3:23 Uhr
Betrifft: SZ: Klinken putzen für den Herrn

Süddeutsche Zeitung
Samstag, 16.2.2002

Klinken putzen für den Herrn

Einheitsanzug, Gebets-WG, Teeverbot: Mormonen-Missionare haben strenge Regeln

Von Monika Maier-Albang

Andere Männer haben Autos als Bildschirmschoner. Mister Headfields Lieblingsmotiv sind die Tempel des Herrn. Davon gibt es viele. „107“, schätzt der junge Mann. Genau weiß er’s nicht. „Es werden ja ständig mehr.“ Jordan River Tempel in Utah. Tonga Tempel im Pazifik. Hawaii, Hong Kong, Johannesburg, und natürlich den der Kirchenzentrale in Salt Lake City in vier Varianten: bei Sonnenaufgang, im Schnee, am Abend und mit Festbeleuchtung zu Weihnachten. Mister Headfield, der aus einem 20000-Seelen-Ort in Utah stammt und München allein deshalb „total interessant“ findet, erkennt jeden „heiligen Ort“ auf Anhieb. Und das, obwohl sie sich zum Verwechseln ähneln: blütenweiß gestrichen, mit spitzen Türmen, deren höchster den Engel Moroni trägt.

Mister Headfield ist Missionar der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Als Mormonen bezeichnen sich die Mitglieder nur im Notfall. Zum Beispiel, wenn sie auf der Straße jemanden ansprechen und der mit dem komplizierten Namen partout nichts anzufangen weiß. Mister Miner und Mister Lowry, beide Anfang 20 und schon „Elder“ ihrer Kirche, sind heute rund um den Goetheplatz unterwegs. Es ist kalt und unfreundlich. Doch „die persönlichen Vertreter Jesu Christi“ schreckt das nicht ab, „Sein Wort unter dem Deutschen Volke zu verkünden“, wie es in den Statuten heißt. Eine Aufgabe, die es wert sei, sagt Miner, täglich zwölf Stunden von Tür zu Tür zu wandern. „Es gibt nichts Wichtigeres.“

Beim Powerwalking durch die Straßen wird jeder angesprochen, der den Männern über den Weg läuft. Allerdings will kaum einer zuhören. „Keine Zeit.“ „Muss zur Arbeit.“ „Schleichts Euch.“ Miner und Lowrey lächeln unerschrocken. „Ich bin krank“, röchelt ein Mann und fasst sich an den Hals. „Das ist mal eine andere Ausrede“, grinst Lowry zu seinem Missionsbruder hinüber.

Wie alle Missionare trifft man Miner und Lowry stets im Doppelpack an. Dass sie sich auch nach Monaten gemeinsam verbrachter Zeit noch Siezen wirkt ähnlich komisch wie bei den FBI-Agenten Scully und Mulder, die selbst noch in Folge 1050 nicht zueinander finden. Und genau so ist es gedacht. Die Vorschrift soll helfen, Distanz zu wahren. Denn die Elders wohnen während ihrer Frontier-Erfahrung je zu zweit in einer Art spiritueller WG: Alkohol, Tabak, Kaffee und Tee sind verboten. Um 6.30 Uhr klingelt der Wecker, um 22.30 Uhr ist Bettruhe. Dazwischen sind sie unterwegs in den Straßen oder auf „Belehrungsterminen“. Bevor man die Wohnung verlässt, kniet man nieder zum Gebet.

Zweiter Versuch: ein gelber Altbau mit schmiedeeisernem Treppenaufgang. Von 15 Parteien sind zwei zu Hause. Eine ältere Dame schließt die Tür, sobald sie die Männer erblickt. Da hilft auch das adrette Auftreten nichts. Einheitsanzug, Namensschild, weißes Hemd, dunkler Anzug, Krawatte. Man dürfe durch ungepflegtes Äußeres „der Botschaft nicht im Wege stehen“, sagt Miner. Der Mann an der Nachbartür lässt sich auch nicht bekehren: „Es gibt keinen Gott, nur die Projektion unseres Gehirns.“ Kein fruchtbarer Acker für das Weizenkorn des Herrn.

Elder Headfields Computer steht in einer schicken Sollner Villa, von wo aus er die Arbeit der anderen Missionare koordiniert. Man sei keine arme Kirche, sagt der Pressesprecher des „Pfahls“ Süddeutschland, Peter Wöllauer. Auch keine Kirche der Armen, kritisieren Sektenexperten. Eher eine Kirche für weiße, erfolgreiche Männer. Der Religion gewordene „american dream“ vom auserwählten Volk Gottes, der 1823 seinem 18-jährigen Propheten Joseph Smith am Berg Cumorah im Staat New York erschien. Der Engel Moroni übergab Smith dabei goldene Tafeln, die Berichte von den Heiligen der Letzten Tage enthielten – einem Volk, das in der Vorzeit nach Amerika ausgezogen war. Die Kirche, die von einem Propheten-Präsidenten (der seine Eingebungen direkt von Gott erhält) und den Zwölf Aposteln geleitet wird, sieht sich als Verkörperung der Urkirche. Damit alle Menschen zum richtigen Glauben finden, schickt die Zentrale jährlich 60000 Missionare zuerst zum zweimonatigen Sprachkurs und dann rund um den Globus. 120 Männer und Frauen missionieren zur Zeit in Süddeutschland. Zwei Jahre verbringen die Männer im Ausland, die Sisters nur 18 Monate. Ihre eigentliche Berufung wartet daheim: Ehemann und viele Kinder.

Dritter Anlauf. Eine junge Mutter öffnet. „Würden Sie an einer Umfrage teilnehmen?“ bittet Elder Miner und umfängt sein Gegenüber mit einem charming Lächeln, das fast bubenhaft wirkt. Doch der Missionar ist gewandt, wenn es um Glaubensfragen geht. Keine Kunst in einer Gemeinschaft, wo schon Fünfjährige Kurzreferate über ihren Lieblingspropheten halten. Die Frau willigt ein. „Ist Ihnen eine harmonische Familie wichtig?“ „Sehen Sie Kindererziehung als eine große Verantwortung?“ Was soll man da anderes sagen als „Ja“? Zur Belohnung gibt es das Buch Mormon und ein beschwingtes „Auf Wiedersehen“. Nur nicht aufdringlich sein beim Erstkontakt, das lernt man rasch in Deutschland.

Fotos statt Kreuze

Trotzdem will es mit den Neubekehrungen hierzulande nicht recht vorangehen. Während sich weltweit elf Millionen Menschen zu der „schnellstwachsenden Kirche der Welt“ bekennen, sind es in Bayern gerade mal 3800. Davon leben 400 in München, überwiegend Amerikaner oder Kanadier, für die es eine eigene englischsprachige Gemeinde gibt. Die anderen – Russen, Ukrainer, Philippinos, konvertierte Deutsche – treffen sich in zwei Gemeindehäusern in Solln und in der Rückertstraße. Keine Kreuze, nur Fotos von Tempeln, diesmal gerahmt, kleiden die Wände. Gottesdienst feiern die Heiligen in einem Raum mit 70-er Jahre-Charme inmitten von Plastikblumen unter holzgetäfelter Decke. Hinter einer beweglichen Wand führen Stufen in jenes Becken hinab, in das der Täufling eintaucht. Im Nebenraum zeigt Sister Bucsela die Basketballhalle. „Die ist praktisch. Für Familienfeiern.“

Die „schleppende“ Missionierung in Bayern führt Wöllauer darauf zurück, dass es „kaum Interesse an Religion außerhalb von Brauchtum gibt“. Dazu viele „Missverständnisse“, etwa das der Polygamie. „Dass ein Mann mehrere Frauen hat, das gibt es daheim nur noch bei Splittergruppen auf dem Land“, sagt Headfield. Auch was Abtrünnige im Internet berichten – über bedingungslosen Gehorsam, Zensur und die Geheimhaltung der Kirchenfinanzen – ficht ihn nicht an. „Wo das Geld hingeht, sieht man doch.“ Druckkosten, Unterhalt der Tempel, Hilfe für Missionare, die sich die 250 Dollar monatlich für Kost und Logis nicht leisten können. Und die Ahnenforschung, mit deren Hilfe möglichst viele Verstorbene nachträglich getauft werden sollen.

Vierter Versuch der Elder Miner und Lowry. „Hey, Sie kommen aus Salt Lake City und schauen sich nicht die Spiele an?“, wundert sich die Frau, die öffnet. Amerikanerin auch sie. Miner schüttelt den Kopf. Die Olympiade sei zwar eine gute Sache. „Da schauen viele Menschen auf uns.“ Nur er wird nicht zuschauen. Fernsehen und Radio sind verboten auf Mission. Doch auch das ist „kein Problem“. „Wir hätten eh keine Zeit.“

http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel123563.php

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