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Beitrag 38 von 81
zum Thema Zeitungsartikel über die Mormonen
Seite erstellt am 25.4.24 um 16:29 Uhr
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Verfasser: Gunar
Datum: Samstag, den 9. Februar 2002, um 3:55 Uhr
Betrifft: Facts: Der Herr ist mit ihnen, Schweizer Mormonen, Jahrelange Gehirnwäsche, u.A.

Facts
07.02.02
06/2002
Seite 48

Gesellschaft

Mormonen

Der Herr ist mit ihnen

Alle Welt schaut auf die Olympiastadt Salt Lake City. Für die Mormonen ein göttlicher Anlass, um PR in eigener Sache zu machen.

Von Peter Hossli

Laut erschallt der «Ruf zu dienen». Etwa 200 19-jährige Burschen rezitieren ihn, aufgereiht wie eine Armee, in einem fensterlosen Saal in Provo, einer öden Stadt 45 Meilen südlich von Salt Lake City im US-Bundesstaat Utah. Insgesamt rund 2500 Zöglinge fiebern im Ausbildungszentrum der Church of Jesus Christ of Latter-day Saints (LDS), besser bekannt als «die Mormonen», ihrer künftigen Aufgabe entgegen: In die Welt auszuschwärmen, «um den Gospel von Jesus Christus zu verbreiten», wie einer sagt, der demnächst nach Hamburg aufbricht. Die Religionsgemeinschaft, weltweit elf Millionen Mitglieder stark, sei «auf steiles Wachstum eingestellt».

Doch jetzt kommt die Welt erst einmal zu den Mormonen. Ihre Kapitale Salt Lake City beherbergt die Olympioniken der Winterspiele. Eineinhalb Millionen Besucher werden erwartet. Dazu 9000 Presseleute, die den Gospel des Sports in Milliarden von Stuben tragen: Der Höhepunkt einer jungen, ursprünglich in den USA hausgemachten Religion. Kein Wunder, dass vieles, was die US-Mormonen tun, typisch amerikanisch wirkt - etwa der hohe Stellenwert, den sie der Selbstkontrolle einräumen, und das Arbeitsethos. Und der Glaubenseifer.

«Jetzt erfüllt sich die Prophezeiung Isaaks», freut sich Religionsprofessor Craig Manscill über Olympia. An der LDS-Universität in Provo verkündet er, dass die Menschen, wie Isaak im Alten Testament niedergeschrieben habe, dereinst auf hohe Berge steigen und Gott huldigen werden. Nun sei der Moment da. Alle könnten sehen: «Wir sind die restaurierte Kirche Jesu Christi», sagt Manscill.

Es ist das erste Mal, dass eine Religionsgemeinschaft eine Olympiade durchführt. Mormonen haben dafür gesorgt, dass sie in das «gelobte Land» nach Utah kommt, wo über 70 Prozent der Bewohner LDS folgen. Mormonen organisieren die Spiele, Mormonen nutzen sie als PR-Fläche. Die US-Presse bezeichnet die Spiele von Salt Lake 2002 bereits als «Mo-lympics».

Eine ideale Bühne für die Mormonen, den Rest der Welt mit ihrem ideologischen System vertraut zu machen und mittels Massenmedien von dessen Ungefährlichkeit zu überzeugen. Alle sollen glauben, dass die Mormonen keine Sekte, ihre Angehörigen ganz normale Christen seien. Die - oft mit dem Mormonenglauben gleichgesetzte - Polygamie etwa sei ein Relikt aus dunklen Tagen und ihr enthaltsamer Lebensstil nicht lustfeindlich, sondern gesund. Gleichwohl wollen sie während der Spiele zurückhaltend missionieren. «Wir bieten unsere Dienste nur an, wenn wir gefragt werden», betont Craig Zwick, ein führendes Mitglied. Die Spiele seien schliesslich nicht direkt an die Mormonen vergeben worden.

Ohne Mormonen läuft jedoch nichts in Salt Lake City und dem Bundesstaat Utah. 90 Prozent der Parlamentsmitglieder gehören der Kirche an, ebenso der Gouverneur, der Bürgermeister, die Vorsteher des lokalen wie staatlichen olympischen Komitees und die beiden nach Washington entsandten Senatoren. 24000 Freiwillige, meist Mormonen, betreuen während der Spiele die Besucher: Junge Frauen in langen schwarzen Mänteln unterrichten in Dutzenden Sprachen Sportler, Fans und Reporter beim Tempelplatz, dem spirituellen Zentrum der LDS. Schwyzerdütsch eingeschlossen. Sie geleiten Touristen zu den religiösen Stätten, durch das Informationszentrum oder den Büstensaal der Propheten.

Parallel zum olympischen hat die LDS-Kirche ein eigenes Pressezentrum eingerichtet. Auf der exzellent funktionierenden Website präsentiert sie mehrsprachig über hundert Ideen für mögliche Artikel - mit druckfertigen und kostenlosen Fotos zum Herunterladen. Auf Schritt und Tritt begleitet ein Heer freundlicher PR-Leute alle Journalisten, die sich für die Kirche interessieren. Und sie werden sich für sie interessieren: Es gibt in Salt Lake City ausser ihr fast nichts. Siegerinnen nehmen ihre Medaillen südlich vom Tempelplatz entgegen. Ertönt die Nationalhymne und kullern den Abfahrern Freudentränen über die Wangen, glänzen im Hintergrund die Marmortürme des Tempels - live übertragen.

Die olympische Fackel wird durch dieselbe Talmündung ins Stadion getragen, die einst der Utah-Begründer und wichtigste Mormone, Brigham Young, beschritten hat. Auf der Spitze des vordersten Turms thront als goldene Statue der Engel Moroni. Im Jahr 1823 soll der LDS-Begründer, der Journalist Joseph Smith, ihm in einem Waldstück nördlich von New York begegnet sein. Der Indianer-Engel hat dem damals 18-Jährigen angeblich mit Texten bekritzelte Goldplatten überreicht, geschrieben von Abkömmlingen eines israelischen Stammes, der 600 Jahre vor Christus vom Jemen aus nach Zentralamerika gesegelt sein soll.

Die Eingeborenen Amerikas, folgerte Smith, stammen demnach aus dem Nahen Osten. Smith, der die Botschaft übersetzt und das Buch Mormon verfasst haben soll, glaubte, Gott habe ihn zum Nachfolger Christi auserwählt mit dem Auftrag, die Kirche Jesu wieder herzustellen. Prompt erhob er sich zum Präsidenten mit Prophetenstatus und heuerte zwölf Apostel an. Dieselbe hierarchische Struktur gilt offiziell noch heute - mit Gordon B. Hinckley, 91, als Prophet.

Viele traten der neuen Kirche bei. Smith entsandte Missionare nach Europa, ehelichte mehrere Frauen und zog den Hass der US-Protestanten auf sich. Ein Mob erschoss ihn 1844. Der selbst ernannte Jesus wurde zum Märtyrer. Sein Nachfolger, Brigham Young, führte die verfolgten Gläubigen wie einst Moses das erwählte Volk auf einem Treck von Illinois westwärts nach Utah. 1847 liess er sich in einem unbesiedelten Wüstental nieder. Doch zwei Jahre später lockte der Goldrausch Kaliforniens Hunderttausende in den unberührten Westen und beendete die Isolation der polygam lebenden Mormonen. Sie machten nun gute Geschäfte mit den Reisenden. Young gründete 270 Firmen, Banken, Versicherungen, Läden und pflanzte den Samen für eine blühende Religionsgemeinschaft. Von seinen Jüngern verlangte er eine «devote und saubere» Lebensführung.

Grundsätze, auf die sich die amerikanischen Mormonen bis heute berufen und mit denen sie den Erfolg ihrer Lehre begründen. In Utah glaubt fast jeder an sie. «Weil sie stimmt», lautet die Standardantwort kurz, knapp, uniform wie fast immer, wenn LDS-Mitglieder offiziell auf Fragen antworten. Die Religionszugehörigkeit gründe auf totaler Freiwilligkeit, wird immer wieder behauptet, auch wenn Diskussionen - etwa darüber, ob Frauen nicht doch zu Priesterinnen geweiht werden sollten - offiziell nicht stattfinden. «Gott sagte, Frauen gebären Kinder und pflegen das Haus», sagt Mormonenführer Craig Zwick. Denn: «Unsere Kirche hat sich seit den Anfängen kaum verändert.»

Das gilt auch für den Lebenswandel: Die Kopfhaare kurz schneiden, keinen Alkohol, Kaffee oder Tee trinken, nicht rauchen und unbefleckt heiraten. Selbst Kaugummis sind verpönt. Das Bier in Utah ist dünn. Harte Getränke werden nur in privaten Klubs ausgeschenkt. In Restaurants muss die Weinkarte ausdrücklich verlangt werden. Selbst dann bringt sie die Kellnerin meist nur unter dem Dessertmenü versteckt zum Tisch.

Abgeleitet wird dieser Verhaltenskodex vom Wort der Weisheit, das Joseph Smith am 27. Februar 1833 als Offenbarung empfangen haben soll. Nur wer sich daran hält, darf im Tempel heiraten. Dafür verspricht die Kirche «ewiges Glück» sowie «ewiges Zusammensein der Familie» im Jenseits. Eine kinderreiche Familie ist für gläubige Mormonen der letzte Imperativ.

Wer Single ist, hat ein Problem. Wie Joseph Ogden, 31. Eine gute Partie. Wie die meisten Mormonen Utahs ist er ein höflicher Kerl. Nie laut, stets wortgewandt, smart. An der Brigham Young University unterrichtet er Marketing, besitzt ein MBA und hat jahrelang in Asien gearbeitet. Nur mit der Ehe klappts nicht. Dabei hatte er schon einige Freundinnen. Und Sex? «Den spare ich mir für später auf.» Für Joseph Ogden ist vor- oder aussereheliche Lust «bloss nachteilig». Er ist überzeugt, dem Verzicht später ein «besseres und erfüllteres Sexleben» zu verdanken.

Weit greift bei den LDS-Jüngern die soziale Kontrolle. Die Kirche steht mitten im Dorf, das allgegenwärtige Zentrum, ein paar Schritte von zu Hause entfernt. Hier finden sich Ehepartner, Freunde, Geschäftspartner. Hat eine Gemeinde mehr als 250 Mitglieder, wird sie aufgeteilt. Niemand ist allein. Ledige treffen sich nur in Gruppen. Jeweils zwei bis vier LDS-PR-Leute begleiten die Reporter in Salt Lake City. Spricht man eine Missionarin an, kommen gleich zwei andere hinzu. Während ihrer zweijährigen Mission wird den Missionaren alle drei Monate ein frischer Partner zugeteilt. Das soll Glaubensdebatten und Freundschaften verhindern.

Intellektuell getrimmt werden Mormonen an der Brigham Young University in Provo. 32000 Studierende büffeln hier Mathematik, Wirtschaft oder Jurisprudenz und besuchen zudem sieben religiöse Kurse. Auch Katholiken, Muslime oder Juden dürfen studieren - solange sie sich an die Regeln halten. Den Studenten gefällts. «Ich bin hier, weil alle diese Vorschriften wollen», lautet die uniforme Antwort. Obwohl die Brigham Young University landesweit ein hohes Ansehen geniesst, bezahlen die Studierenden weit geringere Gebühren. Die Kirche subventioniert sie.

Sie betrachte die Universität als «Investition», sagt Ned Hill, Rektor der Wirtschaftsabteilung. «Wir produzieren die besten LDS-Mitglieder.» Sie fänden leicht eine Stelle - weil Mormonen mitbringen, was die Wirtschaftswelt so sehr schätze. Fast 80 Prozent der BYU-Abgänger sprechen fliessend eine oder mehrere Fremdsprachen. Sie trinken nicht. Gottesfürchtigkeit und Moral mache sie zu «ehrlichen und fleissigen Arbeitern», sagt Hill.

Vor 100 Jahren noch verfolgt, prä-gen die Mormonen heute Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Amerikas. Keine Kirche der Welt wächst rascher. Ein LDS-Mitglied lenkt als Rektor die Wirtschaftsschule der Harvard University, die Kaderschmiede des Landes. Der Brown University in Rhode Island, eine der Topschulen der USA, steht ein Latter-day Saint vor. Die derzeit einzige Gewinn bringende US-Fluggesellschaft, JetBlue, hat ein Mormone erfunden. Deren Geschäftsmodell - geringe Preise, wenig Service - gilt als Zukunft des Flugverkehrs. Hotelier Willard Marriott gründete eine der weltweit grössten Herbergeketten. Elf Mitglieder des US-Repräsentantenhauses sowie fünf von 100 amerikanischen Senatoren bekennen sich zum Glauben an Moroni.

Wer in der amerikanischen Politik oder in der Wirtschaft etwas erreichen will, kommt an den Latter-day Saints nicht vorbei. «Weil unsere Bücher die Wahrheit sagen», meint Senator Orrin Hatch. Seit 25 Jahren sitzt er im Senat. Einer der einflussreichsten Politiker des Landes. Jahrelang weibelte er beim olympischen Komitee für Salt Lake City als Austragungsort.

Im vergangenen Jahr bewarb sich der 67-Jährige für das Amt des Präsidenten. Seine potenziellen Wähler warnte er, George W. Bush sei nicht wirklich konservativ. «Unsere Kirche ist so erfolgreich, weil die Welt moralisch kollabiert», sagt der Senator. Die heutige Jugend sei zugleich die «schlimmste und beste». Medien und Pornografie hätten viele verdorben. «Anderseits freuen mich jene, die moralisch aufrichtig leben.»

Wie die Studierenden der Brigham Young University. In einer Studentenbude treffen sich rund 20 junge Frauen und Männer. Die 18- bis 26-Jährigen spielen Klatsch- und Ratespiele. Zum Trinken gibts Kiwi-Erdbeer-Limonade. «Wir Mormonen können auch ohne Alkohol Spass haben», sagt der Gastgeber. So anständig geht es sonst an amerikanischen Colleges selten zu.

Doch «Heuchelei ist auch in Utah weit verbreitet», sagt die Studentin Chelsey Anderson, die sich als «flexible Mormonin» bezeichnet. So weist der Staat Utah zwar eine der geringsten Scheidungsraten Amerikas auf. Doch im Untergrund blüht das Geschäft mit der Pornografie. «Viele Ehen gehen deswegen zu Grunde», sagt Chelsey. Manche Männer seien geradezu süchtig nach Internet-Pornografie.

Stets ein sexy Thema für die US-Medien ist die Polygamie. Noch leben etwa 300 000 Personen in Utah polygam und bieten Futter für Zeitungen und Fernsehmagazine. Die offizielle Religionsgemeinschaft jedoch hat die Vielweiberei längst verboten. Wer sie betreibt, wird exkommuniziert. Ihre Abschaffung war Bedingung der US-Regierung, Utah in den Staatenbund aufzunehmen.

Heute dient sie als ein willkommener Schleier. Denn wer von Polygamie spricht, übersieht problematischere Aspekte der LDS. Etwa die globale Missionsarbeit. Männer müssen, Frauen dürfen missionieren. Wo immer die Kirche legal auftreten darf, errichtet sie Missionsstationen, vornehmlich in der Dritten Welt. Kaderschmiede ist das Missionary Training Center in Provo. Stets mittwochs herrscht Festtagsstimmung. Nach dem Mittagessen liefern gegen 600 Elternpaare ihre 19-jährigen Söhne ab. Aus der ganzen Welt reisen Bekehrer in spe an, aus Italien, aus Kanada und Australien, von den Philippinen und der Südsee. Die Männer heissen von nun an Elder. Die wenigen Frauen - die Schwestern - sitzen am Rand, gekleidet in weite Roben. «Die Welt weiss, wer ihr seid», sagt Präsident David Wirthlin am Orientierungstreffen, «auf Grund der Kleidung, des Gebarens und der Sprache.»

«Ihr seid Arbeitsbienen», hämmert Wirthlin den Zöglingen ein. Dann schickt er die Eltern weg. Eine letzte Umarmung, Tränen. Als «Freudentag der Familie» beschreibt der Präsident den ersten Tag der zweijährigen Trennung des Sohnes von Mutter und Vater. «Sie bringen uns Kinder, wir geben ihnen richtige Männer zurück.» Über 61 000 stehen derzeit im Dienst der Mormonen-Armee. Keine leichte Zeit. Ausschliesslich der Missionarsarbeit soll man sich widmen, nicht fernsehen oder Anlässe besuchen. Mit dem anderen Geschlecht darf man genauso wenig allein reden wie die einem zugewiesene Region verlassen. Nach Hause telefonieren ist nur an Weihnachten und am Muttertag erlaubt. Einmal die Woche darf der Zögling einen Brief an die Eltern schreiben - von Hand.

Allein im Olympiajahr 2002 sollen, sagt LDS-Führer Craig Zwick, 100 000 Filipinos beitreten. Für Brasilien prognostiziert er eine Wachstumsrate von acht Prozent, was 60 000 neuen Mormonen entspräche. Und Wachstum bedeutet für die Latter-day Saints Umsatzsteigerung. Zehn Prozent des jährlichen Einkommens treten LDS-Mitglieder ab, vor den Steuern. Wie reich die LDS wirklich ist, weiss niemand. «Leute spekulieren, wir sässen auf 300 Milliarden Dollar», sagt Führungsmitglied Craig Zwick. Die Missionare bezahlen die Ausbildung und die zweijährige Mission selbst, manchmal sparen sie jahrelang.

Seit bald zwei Jahren sparen Bronson Nerenbergs Eltern auf seine spätere Mission. Bronson ist fünf Jahre alt. Er hat drei Schwestern und lebt in Riverton, einem schmucken Vorort von Salt Lake City. Billy, der 31-jährige Vater, wirkt in der Verwaltung des Chip-Herstellers Intel. Seine Frau Rhonda, 28, studierte Mathematikerin, führt den Haushalt und kümmert sich um die Kinder. «Es gibt nichts Schöneres als eine solide Familie», sagt Billy.

Die drei älteren Kinder sprechen bereits ein paar Brocken Deutsch, zur Vorbereitung auf ihre Mission. «Tschüss» können sie schon. Deutsch lernen sie, weil Vater Billy von 1989 bis 1991 in der Schweiz missioniert hat. Dort habe er «vor allem Asylbewerber» konvertiert. Menschen am Rand der Gesellschaft sind die dankbarsten Objekte, sie lassen sich leichter überzeugen.

Auf dem Welfare Square in der Gegend von Salt Lake City oder Provo bekommen Arme kostenlos auf LDS-Bauernhöfen produzierte Lebensmittel. Der Bischof einer Gemeinde entscheidet, wer wie viel erhält. Zwar betont der Leiter des Welfare Square, Mel Gardner, «auch Nichtmitglieder erhalten die LDS-Almosen». Allerdings würden viele Empfänger konvertieren und zu fleissigen Berufstätigen ausgebildet. Eine lohnende Sache: So haben sie ein Einkommen, von dem sie zehn Prozent abgeben können.

Die Kasse bedienen Darel Austin und dessen Frau Pauline, beide im Rollstuhl. Seit 46 Jahren sind sie verheiratet, haben neun Kinder grossgezogen. Sie leisten Gratisarbeit; die Kirche erwartet das. «Unmöglich», ein inaktives Mitglied zu sein, sagt Billy Nerenberg. So bekleiden die meisten Mormonen zwei Vollzeitstellen: Ihren Job und die Hingabe an die Religionsgemeinschaft. Mehrmals jährlich leisten sie freiwilligen Dienst. Am Sonntag sind drei Stunden in der Kirche zu verbringen. Der Montag gilt Gott und der Familie, der Rest der Woche anderen LDS-Veranstaltungen.

Dazu kommt die Ahnenforschung. Jeder Gläubige muss mindestens vier Generationen zurück seine Vorfahren aufsuchen, deren Geburts- und Todesdaten sowie Familienverhältnisse auflisten. Die Daten sammelt die Gemeinschaft zentral. Tote werden postum getauft und aufgenommen. «Wir schweissen Familien für immer zusammen», sagt Alex Schmalz, ein einst aus Bern nach Utah ausgewanderter Archivar des Family Research Center, dem grössten Genealogie-Zentrum der Welt. Deutsche Ortssippenbücher lagern hier, ebenso alte Einwohnerkontrollkarten der Schweiz, selbst eine Namenliste der während des Holocaust ermordeten Juden.

Insgesamt betreibt die LDS über 3500 Forschungszentren, in denen Daten auf Mikrofilmen zusammenfliessen. Bis anhin hat die Kirche rund 600 Millionen Namen erfasst. Und wenn jemand nicht erfasst werden will? «Das stört uns nicht», sagt der Archivar. Das Endziel übersteigt die menschliche Fantasie: «Wir wollen alle je geborenen Personen taufen», sagt Schmalz.

Bookmarks

Info-Seite von Ex-Mormonen: www.ex-mormonen.de
Homepage eines Ex-Mormonen: www.mormonen.de
Umfangreiche Informationen rund um das Mormonentum: www.mormonismus-online.de
Offizielle Seite der Schweizer Mormonen: www.mormonen.ch

Schweizer Mormonen

Der erste Tempel Europas wurde 1955 in der Schweiz - in Zollikofen BE - errichtet. Heute leben hier etwa 7500 Mormonen. Die Organisation ist, anders als etwa in Deutschland, nicht als Kirche anerkannt, sondern als Verein eingetragen. Die Struktur besteht aus vier Pfählen; ein Pfahl besteht aus etwa zwölf bis 15 Kirchgemeinden, die von einem Bischof geführt werden. Dieser erhält, wie alle anderen Beamten, keine Bezahlung. Die Schweizer Mormonen bestehen darauf, als normale Kirche angesehen zu werden mit einem hohen Anteil junger Mitglieder. Dass das Durchschnittsalter «20 bis 30 Jahre tiefer» sei als in den Landeskirchen, werten sie als Erfolg.

Sündenbekenntnis

Keine klinisch reinen Mormonenspiele will der Bürgermeister von Salt Lake City, Rocky Anderson, Demokrat und nicht mehr aktiver Mormone. Engagiert kämpft er gegen das keusche Image seiner Stadt. Zur Happyhour zecht er im Pub oder charmiert Schönheiten des «Utah Bikini Teams». Anderson legte dem offiziellen Pressepaket der Olympiastadt einen selbst verfassten Artikel über seine Sünden bei, um der Welt zu beweisen, dass es «ausser den Mormonen noch was anderes gibt bei uns». Jährliche Schwulenparaden etwa und immer mehr Nicht-Mormonen, die Salt Lake City heute fast zur Hälfte bevölkern.

Ex-Mormone

«Jahrelange Gehirnwäsche»

Bereits als Kind stellte Patrick E. die Glaubensregeln der Mormonen in Frage. Mit 22 löste er sich ganz von der Religionsgemeinschaft.

Von Nina Merli

Über seine Vergangenheit bei den Mormonen will Patrick E. (Name geändert), 25, Student, nur unter der Bedingung sprechen, dass er anonym bleiben kann. Er befürchtet, dass seine Eltern - Mormonen der zweiten Generation - unter Druck der «Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage» geraten könnten. Seine Familie habe wegen seines Austritts «genug durchmachen müssen».

Patrick E. ist in eine Mormonenfamilie «hineingeboren worden» - ein Privileg, wie die Mormonen glauben. «Wer sich vor der Geburt im Himmel besonders gut bewährt, wird direkt in die Elite geboren», erklärt Patrick. Wenn jemand wie er «abfällt», sei das doppelt schlimm: Tritt ein junges Mitglied aus der Religionsgemeinschaft aus, tragen in ihren Augen die Eltern die Schuld, «denn sie hätten ihr Kind vom Mormonentum überzeugen müssen», sagt er.

Patricks Eltern habe man ihre Schuld deutlich spüren lassen. «Man ist meiner Familie lange aus dem Weg gegangen, hat sie gemieden, ignoriert.» Viele Kirchenmitglieder hätten kein Wort mehr mit ihnen gesprochen. «Für meine Eltern, streng gläubige Mormonen, war es hart genug, dass ich meinen eigenen Weg gegangen bin - die Ablehnung der Gemeinde war eine zusätzliche Belastung.»

Mittlerweile haben seine Eltern und seine Geschwister - alle überzeugte Mormonen - seinen Entschluss akzeptiert, darüber gesprochen werde allerdings nicht, denn «das Thema ist tabu».

Patrick E. gewann als 18-Jähriger - kurz vor der Missionsentscheidung - immer mehr Distanz zur Religionsgemeinschaft. Er hatte, sagt er, Mühe damit, dass unbequeme Fragen unbeantwortet blieben: «Ein guter Mormone hinterfragt nicht - er glaubt bedingungslos. Was der Prophet sagt, ist heilig und wird nicht in Frage gestellt.» Das «gute Gefühl», das der Glaube auslöse, sei Beweis genug, dass die Aussagen des Mormonen-Gründers Joseph Smith den Tatsachen entsprächen.

Mit 22 Jahren löste sich Patrick E. endgültig von «Der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage». Vor dem «Disziplinargericht» musste er seinen Austritt bezeugen. Schon als Kind «löschte mir das charismatische Getue ab», erinnert er sich. Zur definitiven Abnabelung bewogen habe ihn die Erkenntnis, «jahrelang belogen» worden zu sein. «Wenn dir seit deiner Kindheit etwas als Wahrheit verkauft wird, was sich mit einem einfachen Geschichtsbuch widerlegen lässt, fühlst du dich regelrecht betrogen.» Zudem hatte er schon als Teenager Mühe mit den «teilweise rassistischen und frauenfeindlichen Ansätzen. Das elitäre Denken der Mormonen war mir zuwider.»

Obwohl sich Patrick E. vom Mormonentum abgewandt hat, bemerkt er noch «Zeichen der jahrelangen Gehirnwäsche», entdecke immer wieder typisch «mormonische Merkmale» an sich wie seine «leicht konservative Weltanschauung». Sex zum Beispiel sei für ihn bis heute ein Tabu-Thema. «Ich habe eine Ablehnung Leuten gegenüber, die ihre Partner häufig wechseln - ich kann nichts dagegen machen, ich empfinde das automatisch.»

Bei aller Kritik sieht Patrick dennoch gute Seiten an seiner Mormonenvergangenheit: «Ich rauche nicht, trinke keinen Kaffee und keinen Alkohol - so kommt wenigstens meiner Gesundheit etwas zugute.»

In den Augen streng gläubiger Mormonen gilt der Abtrünnige dennoch als «ein Kind der Finsternis».

http://www.facts.ch/facts/factsArtikel?artikelid=160977&rubrikid=782

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nicht möglich, da es sich um einen Legacy-Beitrag handelt

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