Das Exmo-Diskussionsforum

Beitrag 49 von 81
zum Thema Zeitungsartikel über die Mormonen
Seite erstellt am 23.4.24 um 12:05 Uhr
zur Nachrichtenliste
der Beitrag:
Verfasser: Gunar
Datum: Montag, den 11. Februar 2002, um 2:51 Uhr
Betrifft: FAZ: Erwähltheit ist vor allem eine Frage des Know-how

Frankfurter Allgemeine Zeitung
11.02.2002, Nr. 35
Seite 58

Nun schreibe ich, Moroni, einiges, wie es mir gut scheint

Der Mormonenglaube war von Beginn an Nährboden uramerikanisch-technovisionärer Dichtung / Von Dietmar Dath

Eine Religion wie diese konnte wohl nur im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts erblühen. Hier lenkte kein jenseitiger Jahweh mehr die Geschicke der Sterblichen auf unbegreifliche Weise, sondern "Nature’s God" (Jefferson), dessen Plan der aufgeklärten Vernunft zugänglich schien. So lag denn auch für potentielle Jünger eines neuen Glaubens auf der Hand, daß Erwähltheit vor allem eine Frage des Know-how ist. Das "Buch Mormon", Gründungsdokument jener Konfession, deren Gläubige sich selbst die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage" nennen, ist von seltsam spröder, geradezu technischer Spiritualität durchdrungen.

Das gestufte Transzendenzversprechen eines "Fortschritts zu Gott", die Jenseitslehre der "mehreren Himmel" und die Überzeugung von der vorweltlichen Existenz aller Menschen als gottnahe Geistwesen - dies alles sind Bestandteile mormonischer Doktrin, die dem technischen und naturgeschichtlichen Progressismus jener Ära mehr verdanken, als formale Entsprechungen der Mormonenbibel zum Alten und Neuen Testament vermuten lassen. Ihre fünfzehn Bücher vom "Ersten Buch Nephi" bis zum abschließenden "Buch Moroni" sind in Duktus und Inhalt von der Schlichtheit alttestamentlicher Hirtenlyrik und der ekstatischen Bilderfülle der spätantiken evangelischen Schriften gleich weit entfernt. Sie präsentieren sich vielmehr als Ergebnis genauer Textarbeit eines einzelnen, der mindestens so sehr Experte wie Erlöserfigur war.

Der Kirchengründer Joseph Smith (1805 bis 1844) will das umfangreiche Werk auf himmlisches Geheiß hin "aus dem Reformägyptischen" übersetzt haben. Der Urtext lag ihm auf metallenen Platten vor, wie sie seine Nation später mit ganz anderen Inschriften ins Weltall schießen sollte. Als Smith mit dem Übersetzen fertig war, nahmen Engel die Platten wieder an sich und brachten sie an einen Ort, den nicht einmal Erich von Däniken je ermitteln wird. Die Übersetzung war eine kräftezehrende Fleißaufgabe von fünfhundert Seiten, deren Vorlage der letzte Prophet Moroni mit einem bescheidenen "Nun schreibe ich, Moroni, einiges, wie es mir gut scheint" kommentierte. Inspirierte Schreiber vergangener Epochen wie Moses, Mohammed oder Johannes hätten sich kaum zu derlei philologischer Großtat bereit gefunden. Zu Smiths Zeit aber, da im fernen Europa selbst der Donnerer Nietzsche seine Zarathustra-Laufbahn als Altphilologe beginnen mußte, lebte man eben nicht mehr in der Welt Homers, die schwungvoll drauflosmythopoetisieren konnte, sondern in der Epoche, die damit zu tun hatte, die Spuren der Odyssee archäologisch auszugraben. Nietzsche wurde in dem Jahr geboren, in dem Joseph Smith starb - der eine sollte bald alle geoffenbarte Religion bekämpfen; der andere aber hatte mit der Gründlichkeit des amerikanischen Pioniers ein letztes großes religiöses Territorium erschlossen, das lange brauchen würde, bis es vollständig besiedelt war und in seiner Welthaupstadt olympische Winterspiele stattfinden konnten.

Dem deutschen Schriftsteller Arno Schmidt, der eine Menge von der textseligen Vermählung technischer Präzision mit schwärmerischen Räuschen verstand, hat als erster die Nähe des Buchs Mormon zur amerikanischen Proto-Science-fiction bemerkt, wie sie in Edgar A. Poes "Arthur Gordon Pym"-Roman entworfen wird. Diese Nähe der Smithschen Religion zu höchst modernen Phänomenen haben auch andere Schriftsteller bemerkt, etwa der vom Mormonismus lange sehr faszinierte "Tarzan"-Schöpfer Edgar Rice Burroughs. Schließlich fielen die Korrespondenzen sogar amerikanischen Gelehrten auf, die im zwanzigsten Jahrhundert oft die weltweit letzten waren, denen die Kulturschätze ihrer Heimat untersuchenswert erschienen, nachdem bereits französische Cineasten und deutsche Comicsammler zugeschlagen hatten: "Wegwerfromane, Zeitungen und Wildwest-Shows verkündeten den Heroismus und die Selbständigkeit von Pionieren, Revolverhelden und Gebirgsbezwingern; zur selben Zeit erfanden die Mormonen - ein visionärer und hermetischer Kult, der gnostische Träume der Selbtsvergöttlichung tief eingesogen hatte - die harsche und monumentale Landschaft des Südwestens neu: als alttestamentliche Wüste, wo Bündnisse mit Gott wiederhergestellt werden konnten und man sich eine vom Glauben abgefallene Welt neu verdienen durfte." Dies schreibt Erik Davies in seiner materialreichen, aber völlig unkritischen Gesamtschau amerikanischer Neo-Utopien "Techgnosis" von 1998.

Jenseits von Kulturgeschichte bleibt die beste Möglichkeit, sich der fortdauernden Fruchtbarkeit mormonischen Bodens für prachtvolle visionäre Blüten zu versichern, die Lektüre von mormonischer Science-fiction. Davon gibt es eine ganze Menge, ist die Zahl praktizierender Phantasten mit Mormonenwurzeln doch groß: Raymond F. Jones, der Autor der Romanvorlagen zu gleich zwei berühmten Hollywood-SF-Dramen, "Metaluna 4 antwortet nicht" von 1954 und Ridley Scotts "Alien" von 1979, gehört ebenso dazu wie Samuel W. Taylor, der die Urtexte der Filmkomödien "Der zerstreute Professor" (1961) und "Flubber" (1997) geliefert hat, Gerald N. Lund, Verfasser umfangreicher Alternativwelt-Epen, oder B. Franklin Thatcher, der mehrere erfolgreiche "Raumschiff Enterprise"-Erzählungen geschrieben und seiner Kirche immerhin als Bischof gedient hat.

Aus dieser keineswegs vollzähligen Aufzählung abzuleiten, die Smithianer seien eine besonders prominente konfessionsgebundene Untergruppe der SF-Kreativen, wäre verfehlt. Die SF-schreibenden oder -zeichnenden Mormonen tragen mit wenigen Ausnahmen ihre Religionszugehörigkeit nicht auffällig vor sich her; außerdem gehören die meisten nicht zur ersten Liga der SF-Prominenz. Überhaupt ist die frei flottierende Spiritualität spekulativer Technophantastik nicht ohne weiteres auf persönliches religiöses Empfinden ihrer Protagonisten zurückzuführen. Zu breit ist die Palette. Neben einem deutlichen Anteil atheistischer Autoren, Regisseure, Comiczeichner und Schauspieler findet man in der SF eher die in den Vereinigten Staaten üblichen moderaten Varianten protestantischer Christlichkeit, diverse praktizierende oder liberale Juden, kaum Katholiken und sehr wenige Exoten, darunter auch ein paar neureligiös gebundene wie Scientologen, New-Age-Gläubige und Ufo-Okkultisten.

Eine Ausnahme von dieser Regel ist indes der bekannteste, kommerziell erfolgreichste und wohl auch beste mormonische Schriftsteller der Gegenwart: der Science-fiction- und Fantasy-Schriftsteller Orson Scott Card. Der bekennt seinen Glauben nicht nur offen, sondern hat ihn sogar zum Thema eines faszinierenden mehrbändigen Romanexperiments gemacht. Card, der von intergalaktischen Antikriegsfabeln ("Ender") über ökologische Mahngleichnisse ("Treason, der Spender-Planet") bis zu altmodischen Abenteuergeschichten ("Die Stadt am Ende der Welt") so gut wie jede Gußform der Gattung zu füllen versteht, unternimmt in seinem 1987 begonnenen "Alvin Maker"-Zyklus nichts Geringeres als eine Neuerschaffung der amerikanischen Geschichte aus dem Geist mormonischer Gnostik. Die gemeinsame Prämisse der Bände "Seventh Son" (1987), "Red Prophet" (1988), "Prentice Alvin" (1989), "Alvin Journeyman" (1995) und "Heartfire" (1999) ist eine vom tatsächlichen Geschichtsverlauf abweichende Entwicklung der Kolonialhistorie der Neuen Welt, bei der die Vereinigten Staaten nie zustande kamen. Die von Wissenschaft und Fortschritt aus Europa vertriebene "alte Magie" belebt dank gesegneter Einwanderer eine in vielfältige zaubrische Länder aufgeteilte nordamerikanische Ostküste.

In dieses Szenario fällt ungefähr zu der Zeit, da in unserer Vergangenheit Joseph Smith wirkte, ein siebter Sohn eines siebten Sohnes, der mit übersinnlichen Talenten ausgestattete Alvin. Dieser bereist auf der Suche nach seinem Erwähltenschicksal dann Gegenden wie Neu-Dover, den Staat "Appalachee", die nordöstlichen Vereinigten Staaten und die "Wobbish-Gebiete" am Hio-River und erlebt Abenteuer, in denen auch authentische historische Figuren, etwa der Künstler und Vogelkundler John James Audobun und der Dichter Balzac, Platz haben. Alvin ist Cards klügste und tiefste Schöpfung. Die Beschreibung seiner übernatürlichen Heiler- und Seher-Gabe in "Alvin Journeyman" birgt die Knospe eines ganzen kulturellen Großgeflechts, das die diversen Heilande der Popkultur bis heute durchwirkt: "Wie viele Leute hat er ein Talent und weiß nichts davon, denn so funktionieren eben Talente. Man denkt, das kann doch keine besondere Gabe sein, denn, du lieber Himmel, es ist doch ganz einfach, bis die andern Leute rings um einen plötzlich anfangen zu staunen. Da denkst du dir dann: ,Meine Güte, die andern können das nicht! Ich hab ja’n Talent!’"

Der ewig junge amerikanische Peter Pan, von Lindbergh bis Edison, Rockefeller bis Elvis, Whitman bis Spielberg, ist in seiner begnadeten Mischung aus Naivität und Kalkül selten besser beschrieben worden. Daß hier ein Dichter seinem Religionsstifter ein Denkmal hat setzen wollen, fällt demgegenüber eher nicht ins Gewicht - kulturgeschichtlich gesehen hatte Joseph Smith am Ende einfach Pech, daß er sein Buch noch als Bibelergänzung anpreisen mußte. Heutzutage könnte er mit seinem spezifischen Talent wohl Tolkien und Rowling, aber auch seinem späten Anhänger Card zeigen, was eine bestsellerische Harke ist.

http://www.faz.net/IN/INtemplates/faznet/default.asp?tpl=central/print.asp&doc={68730457-692B-46C3-8A97-E66120E7A8C3}

zur Nachrichtenliste
auf diesen Beitrag antworten:

nicht möglich, da es sich um einen Legacy-Beitrag handelt

zur Nachrichtenliste
das Themengebiet: zur Nachrichtenliste
die neuesten Beiträge in diesem Themengebiet: zur Nachrichtenliste
die neuesten Beiträge außerhalb dieses Themengebietes: zur Nachrichtenliste
zurück
www.mormonentum.de