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zum Thema Zeitungsartikel über die Mormonen
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Verfasser: Holger
Datum: Dienstag, den 12. Februar 2002, um 11:19 Uhr
Betrifft: Welt: Amerikanischer Fundamentalismus

Die Welt: 12.02.2002

Amerikanischer Fundamentalismus
Die Mormonen sind auf dem Weg, eine Weltreligion zu werden - Debatte
Von Gerhard Besier
Das "größte Ereignis in der Geschichte der Menschheit seit der Auferstehung Jesu" war eine Vision, die 1820 der junge Joseph Smith empfing. So will es der Gründungsmythos der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage", besser bekannt als "Mormonen". Dieser Religionsgemeinschaft gehören über 70 Prozent der 2,2 Millionen Menschen an, die im US-Bundesstaat Utah leben - und so gut wie alle Honoratioren. Die Olympischen Winterspiele in Utahs Metropole Salt Lake City haben mit einem Schlag den amerikanischen "Gottesstaat" in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses gerückt.

Derzeit sind für die Mormonen 61.000 Missionare tätig; mit ihrer Hilfe hat die Religionsgemeinschaft seit 1984 ihre Mitgliederzahl weltweit auf 11,3 Millionen verdoppeln können, davon 38.000 in Deutschland. Die Mormonen sind auf dem besten Wege, zu einer Weltreligion aufzusteigen.

Das religiöse Feuer, das in ihnen brennt, ist vor dem Hintergrund der großen Glaubenserweckungen zu sehen, die Anfang des 19. Jahrhunderts Amerika erfassten. Das "Große Erwachen" hauchte alten Religionsgemeinschaften wieder neues Leben ein oder führte nach Auftritten von Sehern und Propheten zu Abspaltungen und Neugründungen. Joseph Smith gehörte zu den Leitfiguren des religiösen Aufbruchs. Seine Visionen begründeten die vielleicht "amerikanischste" aller in den USA beheimateten Religionen.

Am 21. September 1823 erschien Joseph Smith ein Engel namens Maroni. Dieser stellte sich als Sohn Mormons vor, der schon im 5. Jahrhundert nach Christi Geburt als Prophet in Amerika gewirkt habe. Maroni führte Smith zu einem Hügel und hieß ihn dort graben. Der "Schatzsucher" fand eine Steinkiste mit einer "Prophetenbrille" und einigen beschrifteten Goldplatten. Mit Hilfe der Brille konnte Smith die altertümliche Schrift lesen und einem Schreiber den Text diktieren. Nach Beendigung der Übersetzung musste er dem "Engel" Brille und Goldtafeln zurückgeben. 1830 veröffentlichte er seine Übertragung unter dem Titel "Das Buch Mormon". Für die Gläubigen handelt es sich um eine "neue Offenbarung Gottes", ein der Bibel ebenbürtiges, heiliges Buch.

Das "Buch Mormon" erzählt die biblischen Legenden von Auszug und Gelobtem Land neu - auf amerikanisch: 600 Jahre vor Christi Geburt erhielt der Jerusalemer Bürger Lehi von Gott die Anweisung, mit seiner Familie in die Wüste zu fliehen und am Roten Meer ein Schiff zu bauen. Damit segelten sie bis zur Westküste Amerikas. Dort wurden Lehis Söhne Nephi und Laman Stammväter zweier Völker. Während die Nephiten ihrem Glauben treu und deshalb hellhäutig blieben, fielen die Lamaniten von ihrem Glauben ab und erhielten zur Strafe die dunklere Indio-Haut. Nach seiner Auferstehung erschien Christus auch den Nephiten, gründete eine eigene Kirche und versprach ihnen, dermaleinst für immer nach Amerika zurückzukehren. Mormon schrieb die Geschichte auf die Goldplatten und übergab sie nach der Niederlage der Nephiten in der letzten großen Schlacht gegen die Lamaniten seinem Sohn Maroni. Der vergrub sie und wies 1400 Jahre später Joseph Smith auf das Versteck hin.

Smith musste mit seinen immer zahlreicher werdenden Anhängern von Ohio nach Missouri und Illinois weiterziehen. Seine Gegner nahmen Anstoß an der auch von ihm selbst geübten, offenbarungsgestützten Vielehe. 1844 wurde er in einem Handgemenge getötet. Sein Nachfolger Brigham Young, der "amerikanische Moses", organisierte daraufhin den zweiten großen Exodus der Gläubigen. Die frommen Neusiedler ließen sich am Großen Salzsee nieder und machten aus dem unwirtlichen Gebiet eine blühende Kulturlandschaft - ihr "Gelobtes Land". Als das Territorium 1850 in die USA integriert werden sollte, gab es wegen der seit 1847 offen geübten Polygamie Probleme. Erst als die Vielehe außer Kraft gesetzt wurde, konnte Utah 1896 US-Bundesstaat werden. Obwohl die Mormonen ihren Anhängern 1904 die Vielweiberei verboten, wird unter Strenggläubigen das "göttliche Prinzip" bis heute eingehalten.

1978 wurden Smith’ Offenbarungen verändert, um den rassistischen Aspekt seiner Lehre zu tilgen. Seither dürfen auch farbige Männer Priester werden. Frauen bleibt die sakrale Funktion grundsätzlich verschlossen. Bis heute sind sie den Männern untergeordnet und können nur durch ihre Männer "erhöht" werden.

Trotzdem verkörpert diese Religion wesentliche amerikanische Werte wie Fleiß, Selbstvertrauen, Pragmatismus und Fortschritt. Insbesondere die Lehre der Mormonen vom "immer währenden Fortschritt", eine Art permanenter Vergöttlichung, kommt amerikanischem Fortschrittsdenken entgegen. Obwohl die meisten Mormonen sich für Christen halten, weisen die traditionellen Kirchen diese Selbsteinschätzung strikt zurück. In Sachen Lebensführung freilich haben die Mormonen ihre Konkurrenz überboten. Nikotin, Alkohol und Sex außerhalb der Zwei- oder Vielehe sind verpönt. Die 2350 Athleten, 9000 Journalisten und 1,5 Millionen Besucher aus aller Welt erwartet ein trockenes Klima ohne Rauchwaren und sonstige Ausschweifungen.

Es ist nicht ohne Ironie, dass die Amerikaner ausgerechnet in diesen Zeiten der Welt eine Spielart ihrer Religiosität vorführen, die im säkularen Europa mit dem meist negativ belegten Begriff "Fundamentalismus" charakterisiert wird.

Gerhard Besier ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg.

Quelle: http://www.welt.de/daten/2002/02/11/0211fo313502.htx?search=Mormonen

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