Beitrag 15 von 81 zum Thema Zeitungsartikel über die Mormonen |
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Verfasser: Gunar Datum: Mittwoch, den 6. Februar 2002, um 16:40 Uhr Betrifft: SZ: Schlaflos in Salt Lake City (3)
Dieser Artikel ist ja sowas von zutreffend ...
Süddeutsche Zeitung
Mittwoch, 6.2.2002Schlaflos in Salt Lake City (3)
Sankt Mainstream
„Viele fragen mich: Wie heià ist die Hölle wirklich? Ich sagen ihnen: Zünde ein Streichholz an und halte es an deinen Finger. Die Hölle ist eine Million mal heiÃer als dieses Streichholz. Wir sollten immer Streichhölzer dabei haben, damit wir an die Hölle denken, wenn wir in Gefahr sind, vom Weg des Glaubens abzuweichen.“
Es ist kein durchgedrehter Schwadroneur am StraÃenrand, der da spricht, sondern ein Laienpriester im „Family Radio“, einem der kircheneigenen Sender, denen die Olympiabesucher nicht entgehen werden können, wenn sie in ihren Mietwagen auf den verstopften TraumstraÃen hoch über der Stadt feststecken. Doch fürchtet euch nicht! Selten geht die Bekehrungs- und Disziplinierungsmaschine der Kirche in die Details. Nicht mit Drohungen, sondern mit einer Freundlichkeit, die glatt ist wie das Eis des Olympic Oval, gewinnt die offizielle Kirche ihre Anhänger:
„Die Mormonen haben das Muster der Juden wiederholt“, schreibt Harold Bloom in „The American Religion“: „Sie sind eine Religion, die ein Volk geworden ist.“ Das Paradoxe daran sei, so Lawrence Wright im New Yorker, dass diese neue Ethnie keines der üblichen Merkmale von Ethnizität besitzt: keine eigene Sprache, keine typische Musik, keinen identifizierbaren Kleidungsstil. Im Gegenteil. Die Mormonen beziehen die Requisiten ihrer Religion aus dem Wal-Mart. Ihre Volkstracht ist der Business Suit. Ihre Erbauungsbücher sehen aus wie Flughafen-Bestseller. Statt Oblaten reichen sie Wonder Bread zum Abendmahl. Die Missionare tragen Namensschildchen wie Kaufhausangestellte. Und das Visitor Center in Salt Lake City protzt mit eben dem Eichenlaminat, den Messingbeschlägen und knöcheltiefen Teppichböden, die in amerikanischen Oberklassehotels Luxus und Solidität bedeuten. Selbst der 91- jährige Präsident Hinckley wirkt wie ein gealterter Konzernchef, nicht wie der Prophet, für den die Mormonen ihn halten.
Wer sich semiologisch genau im Mainstream ansiedelt, wird die maximale Zahl von Proselyten machen, dachten die Mormonen wohl. Anfangs glaubt man sich in Salt Lake City deshalb in der amerikanischsten aller Städte. Doch bald gerät das Bild in Bewegung. Man gewinnt eine Sensibilität für den schwer greifbaren Ãberschuss an Konvention, für die zur Schau gestellte Neutralität. Von da an lässt sich ein schlimmer Gedanke nicht mehr verscheuchen: Sind das nicht das Outfit, das die Schurken in „The Matrix“ tragen, die maskenhafte Durchschnittlichkeit aus „Terminator“, das beängstigende Wir aus „Invasion of the Body Snatchers“? Ja, sagen es die Mormonen nicht immer wieder selbst: „Wir sind in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt“?
JÃRG HÃNTZSCHEL