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zum Thema Zeitungsartikel über die Mormonen
Seite erstellt am 28.3.24 um 13:30 Uhr
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der Beitrag:
Verfasser: Gunar
Datum: Dienstag, den 19. Februar 2002, um 0:19 Uhr
Betrifft: Die toten Seelen von Salt Lake City

Berliner Zeitung
Dienstag, 19. Februar 2002

Die toten Seelen von Salt Lake City

Mormonen taufen auch Verstorbene: Sechs Milliarden Ahnen haben sie ihrer Kirche schon einverleibt

Stefan Elfenbein

SALT LAKE CITY, im Februar. "Über das Taufen der Toten, ihrer Seelen, darüber dürfen wir ja eigentlich gar nicht reden", sagt die junge Frau etwas ängstlich. Schwester Posner heißt sie, den Namen verrät das Schild an ihrer Bluse. Sister Posner ist eine der vielen adretten jungen Menschen, die Touristen am Temple Square in Salt Lake City Auskunft geben. Normalerweise erzählt sie eifrig von der Geschichte Utahs oder dem berühmten Chor der Mormonen. Die Frage nach den Toten aber verschlägt ihr fast die Sprache. Ein paar Minuten bleibt sie still. Dann sprudelt es doch aus ihr heraus.

"Wissen Sie, als ich den wahren Weg erkannt habe, hat meine Großmutter die ‚sib’ah‘ gemacht, sieben Tage lang hat sie im Haus gesessen und nicht geredet. Ich bin in New York aufgewachsen und war in meinem früheren Leben Jüdin, und meine Großmutter hab’ ich sehr lieb gehabt." Als sie dann Mormonin geworden sei, fährt Sister Posner fort, habe ihre Großmutter sie für tot erklärt und nach jüdischem Brauch getrauert. "Ich war sehr traurig." Vor einem Jahr sei sie aber gestorben. "Jetzt habe ich sie getauft." Das Lächeln ist in Sister Posners Gesicht zurückgekehrt. Am Tage des Jüngsten Gerichtes, so meint sie, nach der Auferstehung also, könnten sie beide nun wieder vereint sein - als Mormonen, versteht sich.

Archiv im Atomschutzbunker

Nicht auf Erden, sondern im Himmelreich wollen die Mormonen, die sich offiziell "Die Heiligen der letzten Tage" nennen, regieren. Das Taufen toter Seelen war deshalb von Anbeginn zentrales Thema ihres Glaubens. "Es ist die größte Aufgabe, die uns Gott in dieser Welt aufgetragen hat, sich um unsere Toten zu kümmern", schrieb Joseph Smith, der Gründer der Mormonen. Als Ziel gab er seinen Gläubigen vor, alle namentlich bekannten Menschen, die jemals auf der Erde gelebt haben, zu taufen. Familienforschung wurde oberstes Gebot, das Taufbecken zum zentralen Ort in jedem Tempel. Hundert Tempel gibt es weltweit. Sie zu betreten ist nur getauften Mormonen gestattet.

Schwester Posner erinnert sich gerne an den Tag, an dem sie zum ersten Mal in den Taufraum des Haupttempels in Salt Lake City geführt wurde, um als "proxy", als Stellvertreterin für ihre Vorfahren, getauft zu werden. Zwölf lebensgroße Stier-Skulpturen tragen das ovale, blütenweiße Taufbecken. Die Stiere sind vergoldet, sie symbolisieren die zwölf Stämme Israels, Kraft und Stärke. Eine verschnörkelte Treppe führt über die Tiere hinweg und endet im Wasser. Als Täufling sei man mit einem weißen Umhang bekleidet und steige zu einem Priester ins Wasser, erzählt Sister Posner. Der Priester rufe dann den Namen des jeweiligen Toten, der getauft werden solle, bete und drücke den Täufling ins Wasser. "Meine Vorfahren waren plötzlich bei mir. Es war aufregend, wunderschön", erinnert sich das Mädchen. Zwei weitere Priester achteten darauf, dass ihr Körper auch ganz im Wasser verschwand.

Ihren Ursprung hat die Religionsgemeinschaft der Heiligen der letzten Tage in der Kleinstadt Palmyra in Upstate New York. Dort soll 1823 Joseph Smith ein Engel erschienen sein. Von ihm habe er den Auftrag erhalten, erklärte Smith, die erste, ursprüngliche Form des Christentums wieder herzustellen - einschließlich des Taufens von Verstorbenen. Schon die ersten Christen hätten ihre Vorfahren, die die Botschaft Christi ja nicht hatten hören können, getauft, schrieb Smith.

Mormone kann heute jeder werden. Die Tatsache, dass farbige Mormonen ebenso wie unverheiratete Frauen im Mormonen-Himmel lediglich dienende Funktionen erfüllen dürfen, wird Neulingen gegenüber nur selten erwähnt. Trotzdem suchen heute auch Afroamerikaner, Indianer, ehemalige Moslems, Juden und Buddhisten eifrig nach ihren Vorfahren, um sie postum taufen zu lassen.

Ein seltsam grünes Licht beleuchtet den Eingangsbereich der "Family History Library" in Salt Lake City. Der fünfstöckige Würfel, der aussieht wie ein Objekt von einem anderen Stern, ist die weltweit größte Bibliothek mit Materialien zur Familienforschung. Ein Heer von "Forschern" trägt dort Namen und Daten von Menschen aus allen Ländern und Jahrhunderten zusammen. Kirchenbücher und andere familiengeschichtlich wichtige Dokumente werden systematisch auf Mikrofilm kopiert und ausgewertet. Sämtliche deutsche Kirchenbücher wurden schon in den 80er-Jahren kopiert. Um die Kopien bis zum jüngsten Tag aufzubewahren, werden sie in einem atombombensicheren Bergwerk in den Rocky Mountains gelagert. Mehr als zwei Millionen Mikrofilme und Hunderttausende Kataloge liegen dort; Informationen über schätzungsweise sechs Milliarden Menschen - ein großer Teil davon schon getauft. Jeden Monat kommen noch Tausende Filmrollen und Kataloge hinzu. Zweitkopien der Materialien können in der Family History Library eingesehen werden.

"Jetzt ist die richtige Zeit, anzufangen", heißt es auf einem Schild in einem der Lesesäle. "Familienforschung bedeutet nicht, herauszufinden, woher du kommst, sondern wer du bist." Die Mormonen laden jeden freundlich ein mitzuforschen. Wer Hilfestellungen braucht, findet sie in vierzig Sprachen. Die Mormonen bauen natürlich darauf, dass man seine Forschungsergebnisse mit ihnen teilt.

Einsteins Bekehrung

Neben vielen der Namen, die in den Dokumenten der Mormonen aufgelistet sind, finden sich winzige Zahlen und Häkchen. Kaum einer der nicht Eingeweihten kennt die Bedeutung des Zeichens: der jeweilige Vorfahre ist bereits nachträglich getauft und also Mormone. Es gilt die Regel, dass Tote erst dann getauft werden, wenn ihr Geburtstag mindestens 95 Jahre zurückliegt. Meist werden die Toten durch direkte Nachfahren getauft. Es gibt aber auch Ausnahmen.

Als 1995 in den USA bekannt wurde, das übereifrige Mormonen 380 000 Juden getauft hatten, deren Namen sie den Listen von Konzentrationslagern entnommen hatten, kam es zu einem handfesten Skandal. Mehrere jüdische Organisationen drohten mit Klagen. In Salt Lake City fand man eine überraschende Erklärung für den Vorgang. Die Ermordeten seien getauft worden, nachdem eine Gruppe von Mormonen erschüttert vom Besuch des Holocaust Museum in Washington heimgekehrt wären. "Liebe und Mitgefühl" habe sie motiviert, die Toten, die ja auch keine lebenden Familienmitglieder mehr gehabt hätten, zu "retten". Obwohl die Mormonen behaupten, die getauften Seelen hätten vor dem Eintritt ins ewige Himmelreich noch einmal eine Chance, frei zu entscheiden, ob sie Mormonen bleiben wollten oder nicht, einigte man sich schließlich darauf, die Taufen rückgängig zu machen.

Eine neue Klagewelle drohte im vergangenen Jahr, als die Öffentlichkeit erfuhr, dass zweihundert der berühmtesten jüdischen Persönlichkeiten, darunter Israels erster Premier David Ben-Gurion und Albert Einstein, nach ihrem Tod Mormonen wurden. Auch ihre Taufen sollen jetzt rückgängig gemacht werden. Wie getaufte Tote wieder "enttauft" werden können, hat Joseph Smith allerdings nicht erklärt.

http://www.berlinonline.de/.bin/print.php/aktuelles/berliner_zeitung/vermischtes/.html/119121.html

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