Beitrag 23 von 81 zum Thema Zeitungsartikel über die Mormonen |
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Verfasser: Gunar Datum: Donnerstag, den 7. Februar 2002, um 2:18 Uhr Betrifft: FAZ: Mit Fleià und mit Bekehrungseifer
Frankfurter Allgemeine Zeitung
07.02.2002, Nr. 32
Seite 9Mit Fleià und mit Bekehrungseifer
Zu Besuch beim Präsidenten der Mormonen, dessen Einfluà weit über Salt Lake City hinausgeht / Von Horst Rademacher
SALT LAKE CITY, 6. Februar. Der Weg zu Gordon Hinckley ist auÃergewöhnlich kurz. Die knapp zwanzig Stufen zur groÃen, von einem Messingrahmen eingefaÃten Glastür des Hauptgebäudes der Kirchenverwaltung direkt an der belebten South Temple Street im Zentrum von Salt Lake City sind rasch zurückgelegt. Zwei Wachmänner in Zivil prüfen im Computer, ob der Besucher avisiert ist. Dann erscheint ein Sekretär. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und eine runde Brille. Man sei über den Besuch erfreut, sagt er. Durch eine weitere Glastür geht es in eine kleine, mit einem hellen Teppich ausgelegte Halle und von dort in ein Vorzimmer. Dort lächeln zwei ältere Damen tonlos hinter enormen Bergen von Papier hervor, die auf ihren Schreibtischen gestapelt sind. Die schwere Tür zum groÃen Büro steht offen. Das Zimmer ist holzvertäfelt, der Schreibtisch groÃ, blank poliert und nahezu leer. Weit im schweren braunen Ledersessel zurückgelehnt, sitzt der Präsident der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" und liest gerade.
Mit einem Buch - oder besser: der Legende von einem Buch - hat auch die Geschichte der christlichen Glaubensgemeinschaft der Mormonen begonnen, deren höchster Vertreter Hinckley ist. Ein Engel, sein Name ist Moroni, soll einem gewissen Joseph Smith in Palmyra, einem Bauerndorf im Bundesstaat New York, im Jahre 1822 erschienen sein. Angeblich wies der himmlische Bote den damals siebzehn Jahre alten Jungen an, ein seit Jahrhunderten verstecktes, auf goldenen Seiten geschriebenes Buch zu finden und zu übersetzen. Es beschreibe, so sagte der Engel, die Geschichte und Herkunft der ursprünglichen Einwohner Nordamerikas. Ob es die goldenen Tafeln je gab, die neben Smith angeblich von elf weiteren Männern gesehen wurden, sei dahingestellt. Nur sechs Jahre nach dem Auftritt des Engels erschien aber die daraus entstandene erste Auflage des "Buches Mormon". Damit war der Grundstein für die erfolgreichste Glaubensgemeinschaft gelegt, die bisher auf amerikanischem Boden gegründet wurde. Den Grund für den Erfolg nennt Richard Ostling, ein intimer Kenner der Kirche, der ihr jedoch nicht angehört: Mormonismus sei die religiöse Variante des amerikanischen Traumes. Jeder Gläubige kann es durch Eigenleistung bis in die höchsten Sphären des Himmels bringen. Es gibt weder Erbsünde noch Fegefeuer und schon gar keine Hölle. Durch harte Arbeit und den Einsatz für die Familie und die Gemeinschaft erreicht man die höchsten Weihen.
Dennoch sind die Mormonen bei weitem keine demokratische Religionsgemeinschaft. In der Kirche herrscht eine strenge Hierarchie. Hinckley, der seit 1995 die Mormonen führt, ist als Prophet der absolute Herrscher. Er wird von zwei Stellvertretern unterstützt und läÃt sich von einem Ministerrat, den "Zwölf Aposteln", beraten. Der für seine 91 Jahre erstaunlich agile Mann nennt ein Beispiel: Am Morgen vor dem Besuch habe er zusammen mit den "Zwölf Aposteln" entschieden, Schweine nach Kroatien zu schicken, als Hilfe zur Selbsthilfe für eine der Gemeinden dort. Aber man helfe nicht nur um des Helfens willen, sondern auch, weil es in den Augen Gottes den Helfer selbst stärke. Keiner der fünfzehn Männer, weder ein Mormonen-Bischof noch ein Priester dieser Kirche, haben je ein klassisches Priesterseminar besucht oder an einer Universität Theologie studiert. Bei den Mormonen gibt es keine extern ausgebildete Priesterklasse. Jeder junge Mann kann Priester werden, sofern er den Regeln der Kirche folgt. Schon im Alter von zwölf erreicht er die "aaronische" Stufe, von achtzehn Jahren an kann er als "Melchizedek" taufen, Sakramente austeilen und jüngere Priester weihen.
Die prägende Phase im Leben eines jeden Mormonen ist jedoch die Tätigkeit als Missionar. Für die Dauer von zwei Jahren werden die jungen Leute in die Welt hinausgeschickt, um andere Menschen zu bekehren. Das Reglement für die Missionare ist äuÃerst streng, die Kontrolle durch die Kirche genau. Dennoch vermittelt der Aufenthalt in einem anderen Land und das Erlernen fremder Sprachen den Rückkehrern eine gewisse Weltoffenheit. Obwohl es nach auÃen nicht den Anschein hat, ist Salt Lake City eine polyglotte Stadt, in der sich über den Bürgerkrieg in Kolumbien ebenso fachmännisch diskutieren läÃt wie über Unabhängigkeitsbestrebungen in Irian Jaya oder Sri Lanka.
In dieser Hinsicht sind die Mitglieder dieser typisch amerikanischen Kirche vollkommen unamerikanisch. Einer seiner Söhne, erzählt Hinckley, und zwei seiner 25 Enkel waren als Missionare in Deutschland tätig und liebten das Land. Es wirkt zwar banal, ist aber für Amerikaner durchaus typisch, diese Liebe dadurch auszudrücken, ein Auto aus deutscher Produktion zu fahren. Das tue auch sein Sohn, sagt der Präsident der Mormonen stolz. Er selbst kann noch ein wenig Deutsch. Zum erstenmal sei er im Jahre 1935 in Deutschland gewesen und habe dort in Nürnberg die SA marschieren sehen. Er habe groÃen Respekt vor der Schaffenskraft der Deutschen, doch was die Nazis angerichtet hätten, sei grausam gewesen. Aber das sei inzwischen Geschichte, seit Hitlers Niederlage seien doch Jahrzehnte vergangen und Deutschland habe sich verändert, sagt Hinckley. Er sei Optimist und schaue nach vorne. Deutschland sei heute ein wichtiges Land für seine Kirche.
Auf den Missionseifer im Ausland ist auch das schnelle Wachstum bei den Mitgliederzahlen der Kirche zurückzuführen. Nach eigenen Angaben gibt es zur Zeit mehr als elf Millionen Heilige der Letzten Tage, davon leben nahezu die Hälfte auÃerhalb der Vereinigten Staaten. In Deutschland hat die Kirche 36 000 Mitglieder. Im Gegensatz zu anderen Kirchen widmen sich die Mormonen bei ihrer Bekehrungsarbeit aber nicht unbedingt den sozial Schwachen und den Hilfebedürftigen. Es gibt nur wenige Missionsschulen, Hospitäler oder soziale Einrichtungen. Bekehrt werden vor allem Leute, die sich schon mit dem Christentum auseinandergesetzt haben und in ihrer ursprünglichen Kirche keine Erfüllung mehr finden.
Symbol des Bekehrungseifers der Mormonen ist ein goldener Engel mit einem Blashorn, der den höchsten der sechs Türme des Mormonen-Tempels in Salt Lake City ziert. Sein Gold zeugt vom Reichtum der Kirche. Der Bienenkorb hingegen versinnbildlicht - als zweites Symbol der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" - den Fleià und ist sowohl ein Symbol der Mormonen wie auch das offizielle Emblem des Bundesstaates Utah. Er steht somit zugleich für die Verquickung kirchlicher und weltlicher Macht in der Metropole am GroÃen Salzsee.
Denn erfolgreich ist die Kirche nicht nur beim Missionieren, sondern - unter dem Symbol des Bienenkorbes - auch als Unternehmen. Jeder Mormone zahlt jährlich zehn Prozent seines Einkommens an die Kirche. Auf diese Weise flieÃen nach auÃerkirchlichen Schätzungen - die Mormonen selbst nennen keine Zahlen - im Jahr etwa fünf Milliarden Dollar in die zentral von Salt Lake City aus verwaltete Kirchenkasse. AuÃerdem besitzt die Kirche zahlreiche Unternehmen oder ist an solchen beteiligt. Das Kirchenvermögen wird auf etwa 25 Milliarden Dollar geschätzt. Wäre die "Kirche der Heiligen der Letzten Tage" ein Unternehmen, stünde es, gemessen am geschätzten Jahresumsatz, auf Platz 243 der Liste der 500 gröÃten amerikanischen Unternehmen. In seinem dunklen Anzug, mit weiÃem Hemd, gedeckter Krawatte und goldener Uhr wirkt Hinckley tatsächlich wie der Seniorchef eines groÃen Wirtschaftsunternehmens. Als Anrede genügt ihm das Wort "Präsident" vor seinem Nachnamen. Das ist ein in Amerika gebräuchlicher Titel, nicht nur für Wirtschaftskapitäne, sondern auch für die Vorsitzenden von Clubs und Vereinen. Daà auf Hinckleys Schreibtisch neben einer Unterschriftenmappe nur eine amerikanische Wirtschaftszeitung als Lektüre liegt, verstärkt nur den Eindruck, man spreche mit einem Konzernchef.
Angesichts der wirtschaftlichen Macht und wegen eines schon vor fast hundert Jahren erlassenen Ediktes ist die Vielweiberei bei den Mormonen kein Thema mehr. Es war ohnehin nie ganz klar, ob es sich bei der in den ersten 70 Jahren des Bestehens der Kirche von vielen Mormonen praktizierten Polygamie nur um einen extremen Auswuchs männlicher Libido handelte oder ob es darum ging, die Zahl der Mormonen schnell und effizient zu vermehren. Heute jedenfalls predigt die Kirche Monogamie und vor allem Enthaltsamkeit vor der Ehe. Dennoch gibt es polygamistische Randgruppen in Arizona und im Süden Utahs. Abweichler gibt es angeblich auch im Ballungsraum an der Wasatch-Front. Ihnen wird zwar nicht mit Toleranz begegnet, aber wenn sie sich nicht als Polygamisten zu erkennen geben, wird ihr Lebensstil auch nicht hinterfragt - nach der typisch amerikanischen Losung: "Don’t ask, don’t tell." Auch der Verzicht auf Koffein, Nikotin und Alkohol ist in Amerika nichts Besonderes mehr. Wo junge, nicht-mormonische Yuppies ohnehin nicht rauchen, lieber Kräutertee als Kaffee und lieber Edelwasser als Bier trinken, fallen solche Eigenheiten nicht weiter auf. Sie sind wie die heilige Unterwäsche der Mormonen lediglich Randthemen bei der Diskussion um die Heiligen der Letzten Tage. Viel problematischer ist jedoch das Verhältnis der Kirche zu Schwarzen. Im Jahre 1978 erhob man zum erstenmal überhaupt in der Geschichte der Mormonen Schwarze in den Priesterstand. Noch heute glauben viele farbige Bürgerrechtler, daà die Mormonen diesen Schritt nicht vollzogen, um Schwarzen in Amerika gleiche Rechte einzuräumen. Vielmehr wäre ein ganzer Kontinent nicht zu missionieren gewesen, wenn Schwarze vom Priesteramt ausgeschlossen geblieben wären.
Heute sind etwa zwei Drittel der Einwohner Utahs Mormonen. Der EinfluÃ, den diese Religionsgemeinschaft ausübt, geht aber weit über Utah hinaus. Insgesamt gehören mehr als fünf Millionen Amerikaner der Kirche an. Die Mormonen sind damit nach Katholiken, Baptisten, Methodisten und Juden die fünftgröÃte Glaubensgemeinschaft in den Vereinigten Staaten. Gemeinsam mit anderen konservativen Kirchen und vielen Politikern der republikanischen Partei kämpfen die Mormonen für "family values", also gegen den Verfall der Familien. Sie selbst gehen dabei mit gutem Beispiel voran. Bei den Mormonen ist der Familienzusammenhalt sehr eng. Die Kinder müssen wegen der frühen Priesterweihe intensiv mitarbeiten. Beim Missionsdienst lastet eine groÃe Verantwortung auf den Schultern junger Mormonen. Die jungen Bekehrer können sich dann aber auch einen groÃen Teil des Erfolges ihrer Kirche zugute halten.
Daà auch Hinckley kein Unternehmer, sondern Kirchenführer und Prophet ist, merkt man sofort, wenn er auf seine Religionsgemeinschaft zu sprechen kommt. Mit seiner Kirche wolle er das Gute im Menschen fördern. Es gebe keine Unterschiede zwischen den Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen, alle seien schlieÃlich Kinder Gottes. Es herrsche so viel Not und Elend auf der Welt, da müsse man helfen. Hinckley wirkt nicht unnahbar wie andere Kirchenfürsten. Der Besuch bei ihm ist auch keine Audienz, eher eine Verabredung zu einem Gespräch. Es geht wenig förmlich und erst recht nicht steif zu. Das mag daran liegen, daà sich mit dem Präsidenten der Mormonen nichts Zeremonielles verbindet - kein Ring ist zu küssen, noch nicht einmal eine tiefe Verbeugung wird gefordert. Aber auch die Persönlichkeit Hinckleys läÃt keine Barrieren aufkommen.
Er strahlt Wärme aus, seine Worte sind sanft und wohlgewählt, aber dennoch haben seine Darlegungen Ãberzeugungskraft. Immer wieder versteht er es sogar, den Gesprächspartner zu loben. Als man das Haus verläÃt, begegnet man am Ende der Stufen einer Bettlerin. Trotz der Kälte betteln zur Zeit viele Menschen in Salt Lake City. Meist geht man achtlos an ihnen vorüber. Aber nach einem Besuch bei Präsident Hinckley kann man nicht anders - und gibt mal wieder einen Dollar.