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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Montag, den 22. Dezember 2008, um 12:27 Uhr
Betrifft: Fragende und Wissende (Fortsetzung zum Austausch über Antonio A. Feliz)

Hi Sappho (und alle anderen Interessierten),

ich fange hiermit ein neues Thema an, weil es ansonsten zu unübersichtlich wird. Natürlich erinnere ich mich an Deinen damaligen Beitrag als Antwort auf meine Nachfrage. Du hattest von den Schwulenehen geschrieben, ich wollte mehr darüber erfahren und Du hattest dann fairerweise für Aufklärung gesorgt. Ich fand das super. Deswegen hatte ich auch bei meinen letzten Ausführungen den Satz vorangestellt: „ich hoffe, es kommt jetzt nicht blöd, wenn ich auf Folgendes hinweise.“ Durch Dich bin ich überhaupt erst auf das Thema gestoßen und hatte mir dann das besagte Buch besorgt.

Was ich sagen wollte, ist hoffentlich deutlich geworden: Ich finde einen kritischen Umgang mit Quellen wichtig. Das Propagieren von 100 Prozent sicheren Schlussfolgerungen geht mir in diesem Forum und andernorts oft einfach zu schnell (z. B. im Falle der vermeintlichen Sexbesessenheit von Joseph Smith). Ich habe im Laufe meiner eigenen Auseinandersetzung mit der Geschichte meiner Glaubensgemeinschaft v.a. mit Personen Erfahrungen gemacht, die tendenziell einer von zwei Gruppen zugeordnet werden können:

(1) Die erste Gruppe besteht aus Leuten, die keine Mitglieder der HLT-Kirche sind und es auch nie waren. Sie wurden im Rahmen ihres wissenschaftlichen Studiums darin ausgebildet, historische Quellen hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihrer Aussagekraft sachkundig zu bewerten und daraus angemessene Schlüsse zu ziehen. Im Laufe ihres Lebens als Historiker haben sie sich im Bereich der Forschung rund um den Mormonismus ihre Meriten verdient und in Fachkreisen ein hohes Ansehen erworben. Immer wieder mussten sie sich im Zusammenhang mit der Veröffentlichung ihrer Arbeiten in renommierten Fachzeitschriften einer kritischen Prüfung durch Kollegen unterziehen. Im Hinblick auf die Bewertung zentraler historischer Ereignisse im Rahmen der Geschichte der HLT-Kirche kommen sie in der Regel zu sehr differenzierten Schlussfolgerungen. Sie sind sich darüber im Klaren, dass die Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse niemals gänzlich objektiv sein kann - besonders dann nicht, wenn es um emotional sehr aufgeladene Themen geht (wie im Falle der kontrovers diskutierten Geschichte einer Religionsgemeinschaft). Sie verfügen über ein beeindruckendes Hintergrundwissen und sind sich bewusst, dass mehrere Interpretationen möglich sind, wenn es um die Bewertung verschiedener Hergänge geht. Mit Aussagen über die Motive von Menschen sind sehr zurückhaltend und äußern hierzu bestenfalls Vermutungen.

(2) Die andere Gruppe besteht aus Ex-Mormonen, deren Verhältnis zur HLT-Kirche in der Regel nicht so unbelastet ist wie im Falle der ersten Gruppe. Ihnen fehlt meist jegliche formale Qualifikation, Quellen fachkundig auszuwählen, zu gewichten und zu interpretieren. Ihre Kompetenz wurde nie einer kritischen Prüfung durch Fachkollegen unterzogen, sie sind als Laien in der „Scientific Community“ völlig unbekannt und ihnen fehlt das „wissenschaftliche Handwerkszeug“, um beurteilen zu können, wann sie mit ihren Schlussfolgerungen über das Ziel hinausschießen. Dennoch zeigen sie kaum Zurückhaltung bei der Bewertung geschichtlicher Ereignisse rund um die HLT-Kirche. Die eigene Rekonstruktion von Hergängen auf Basis der ohne Fachkenntnis ausgewählten Quellen wird als wahrscheinlichste Version der „Wahrheit“ oder gar als unumstößliche Tatsache verkauft. Eine kritische Distanz und die Fähigkeit, die Grenzen der eigenen Kompetenzen adäquat wahrzunehmen, sind kaum zu erkennen. Sie sprechen Personen, die ihre eigenen Ansichten nicht teilen oder eine differenzierte Sicht der Dinge propagieren, ihre Objektivität ab und bezichtigen sie der Unfähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Geschichtliche Fragen zum Mormonismus, über die in der Fachwelt keine Einigkeit besteht (z. B. im Hinblick auf die Hintergründe des von Dir kürzlich erwähnten Mountain Meadows Massakers), sind für sie längst geklärt. Sie fühlen sich dazu qualifiziert, zweifelsfreie Aussagen über die innersten Gedanken und die unbewusstesten Motive von Persönlichkeiten zu formulieren, die im vorletzten Jahrhundert gelebt haben. Ihr Mosaikbild würde jedoch deutlich anders aussehen, wenn Menschen vom Kaliber des Antonio A. Feliz hierfür keine Steine hätten anfertigen dürfen und wenn die Auswahl der Steine nach Qualitätskriterien erfolgt wäre, wie sie von Profis angelegt werden.

Ich sehe keinen vernünftigen Anlass, mehr Vertrauen in die Kompetenz der Personen aus der zweiten Gruppe zu setzen als in die der Menschen aus der ersten. Außerdem übt eine Entwicklung in Richtung auf den Umgang mit der Geschichte der HLT-Kirche, wie er in der zweiten Gruppe gepflegt wird, für mich persönlich keine Attraktivität aus. Bei mir würde dies vermutlich nicht dazu beitragen, toleranter, bescheidener, offener und umgänglicher zu werden. Ich möchte mit diesen Ausführungen wieder mal nicht besserwisserisch wirken (obwohl ich es vermutlich tue). Mir ist es nur nochmals wichtig zu betonen, dass die Gruppe der selbstkritisch Fragenden meiner Erfahrung nach vornehmlich aus renommierten Fachleuten, und die Gruppe der selbstbewusst Wissenden im Wesentlichen aus formal unqualifizierten Laien besteht. Das passt irgendwie nicht. Ein Verweis auf einige Hardcore-Apologeten, die ebenfalls der zweiten Gruppe zuzuordnen sind (aber natürlich meistens zu völlig anderen Schlussfolgerungen gelangen als die Kritiker), macht die Sache nicht besser. Ich fände es jedenfalls schön, wenn ich in diesem Forum zukünftig im Hinblick auf die HLT-Geschichte und die Motive ihrer Protagonisten weniger „unerschütterliche Zeugnisse von der Wahrheit“ finden würde. Es wäre meiner Ansicht nach erfreulich, wenn diese übrig gebliebene Tendenz aus vergangenen Tagen einer Mitgliedschaft in der HLT-Kirche von mehr Menschen als bisher überwunden werden könnte. Meiner Ansicht nach würde dies zu einer konstruktiveren Auseinandersetzung mit kritischen Kirchenthemen beitragen.

Nix für ungut und viele Grüße

Gipfelstürmer

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