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der Beitrag:
Verfasser: Chamael
Datum: Dienstag, den 30. September 2003, um 22:24 Uhr
Betrifft: Der Schleier Zerriss Teil 2

DER SCHLEIER ZERRISS Teil 2

Es war eine leise, sanfte Stimme, die da sprach, wie ein Lufthauch, der über mich hinwegfuhr. Ich weiß genau, daß da wirklich eine Stimme war, daß sie in meiner Muttersprache mit mir redete und mir eine ganz neue Freiheit eröffnete, mich Gott, dem Allerhöchsten, zu nahen, der mir bis jetzt noch nie auch nur das kleinste Zeichen gegeben hatte, daß Er überhaupt von meinem Dasein wußte.
»Was für einen Zweck hat es, wenn ich am Leben bleibe?« fragte ich bitter. »Ich bin ein Krüppel. Als Vater noch lebte, konnte ich alles mit ihm besprechen. Jetzt kommt mir jede Minute meines Lebens vor wie hundert Jahre. Du hast meinen Vater fortgenommen und mich ohne Hoffnung und ohne einen Lebenssinn zurückgelassen.«
Wieder kam die Stimme, leise, doch voller Kraft.
»Wer hat den Blinden das Augenlicht gegeben, die Kranken gesund gemacht, die Aussätzigen gereinigt und die Toten auferweckt? Ich bin es, Jesus, der Sohn der Maria. Lies, was im Koran über mich geschrieben steht, in der Sure >Das Haus Imrän<.«
Ich weiß nicht, wie lange die Unterhaltung dauerte. Fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Plötzlich erklang von der Moschee her der morgendliche Gebetsruf, und ich öffnete verwirrt die Augen. alles sah so aus wie sonst auch in meinem Zimmer. Aber warum war keiner mit dem Waschwasser gekommen? Es schien so, als habe man mich absichtlich nicht stören wollen, damit ich in Ruhe diese merkwürdige Begegnung genießen konnte.
Im Verlauf des Tages versuchte ich mir dann allerdings einzureden, ich habe das alles nur geträumt. Zusammen mit meinen beiden Schwestern sowie anderen Frauen und Mädchen aus der Verwandtschaft stattete ich dem Grab meines Vaters einen Besuch ab. Alles war still und friedlich dort, und auf die aufgeschüttete braune Erde hatte man frische Blumen gelegt. Doch ich konnte nur mit Entsetzen das Grab betrachten. Vater, der es zu seinen Lebzeiten nie vertragen konnte, auch nur das kleinste Staubkörnern an sich zu haben, lag unter diesem dreckigen Erdhaufen begraben. Es war zu furchtbar, daran zu denken
Als wir von diesem traurigen Besuch nach Hause zurückkehrten, begann für uns eine vierzigtägige Trauerzeit. Während dieser Zeit blieben Safdar Schah und Alim Schah ihrer Arbeitsstelle fern, und ein ununterbrochener Strom von Besuchern aus der Nähe und aus der Ferne, Hohe und Niedrige, stellten sich ein, um dem Andenken unseres Vaters ihre Ehrerbietung zu erweisen.
Während dieser ganzen Zeit versorgten Nachbarn uns mit Essen. In unserem Haus durfte kein Herdfeuer zum Kochen angezündet werden. Es wurde erwartet, daß wir uns nur mit unseren Erinnerungen an den Toten beschäftigten und mit jedem, der kam, über ihn sprachen; Unsere Besucher saßen auf dem Fußboden, um ihre Ehrerbietung zu zeigen, und redeten von allem Guten, das der Tote getan hatte. Auf diese Weise ehrte man sein Andenken und trug mit dazu bei, die Angehörigen aufzumuntern. Es war eigentlich eine schöne Sitte, durch die die Hinterbliebenen Gelegenheit erhielten, ihrem Leid auf die rechte Weise Ausdruck zu verleihen, während ihnen gleichzeitig von allen Seiten Trost und Kraft gespendet wurde.
Als wir, vom Friedhof zurückgekehrt, in einem Zustand tiefster Verzweiflung zu Hause saßen, geschah etwas Merkwürdiges. Eine der Dienerinnen schrie plötzlich auf und deutete auf einen Stuhl.
»Ich habe ihn dort sitzen sehen!« rief sie. Niemand war erstaunt über diese Behauptung. Das Gefühl der Gegenwart eines Verstorbenen verläßt das Haus meistens nicht unmittelbar nach seinem Tod, und im Falle meines Vaters konnten wir es sowieso alle noch nicht recht glauben, daß er wirklich für immer von uns gegangen sein sollte. Es kam uns vielmehr so vor, als sei er nur eben kurz einmal hinausgegangen, um dem Gärtner ein paar Anweisungen zu geben, und würde in wenigen Minuten wieder hereinkommen. Ich sah die Dienerin an und fragte mich, warum ausgerechnet sie ihn gesehen hatte und nicht einer von der Familie.
Tante kam in mein Zimmer und saß für eine Weile an meinem Bett, um mir den Nacken zu massieren. Durch das viele Weinen hatte ich schlimme Kopfschmerzen bekommen. »Dein Onkel und ich werden wie Vater und Mutter für dich sorgen«, versicherte sie. »Bitte, betrachte uns als solche und versuche, den schweren Verlust als Gottes Willen zu akzeptieren. Er hat deinen Vater ins Paradies geholt.«
Als sie wieder gegangen war, brauchte ich dringend irgend etwas, um meine Gedanken von den Ereignissen des Vormittags abzulenken. Darum ließ ich mir den arabischen Koran bringen und begann, die Sure »Das Haus Imrän« zu lesen. Doch es erwies sich als recht schwierig, den arabischen Text richtig zu verstehen, obwohl dessen rhythmisches Versmaß das Auswendiglernen eigentlich immer leicht gemacht hatte. Plötzlich kam mir ein kühner Gedanke: Warum sollte ich den Koran nicht in meiner Muttersprache lesen?
Ich schrieb ein paar Zeilen auf ein Stück Papier und gab dieses Salima, als sie hereinkam, um mich umzuziehen.
»Bitte, geben Sie der Überbringerin die beste Urdu-Ubersetzung des Korans, die Sie haben«, stand auf dem Zettel.
»Geh mit diesen Zeilen in die Buchhandlung und bitte um den Koran in Urdu, herausgegeben von der Taj-Gesellschaft«, sagte ich zu meinem Mädchen. »Das Geld kannst du dir von Tante geben lassen.«
Salima nickte höflich und ging. Zwei Stunden später war sie wieder da, mit dem in Zeitungspapier eingewickelten Buch.
»Sehr schön«, sagte ich. »Nun mach mir bitte noch eine Hülle dafür.«
Am Abend, als alles im Hause still war, entfernte ich die grüne Seidenhülle und nahm den Urdu-Koran heraus. Einen Augenblick hielt ich das Buch unschlüssig in der Hand. Nur zu gern hätte ich jene Stimme noch einmal gehört, die mir versicherte, daß meine Gebete gehört worden seien und es eine Möglichkeit der Heilung und neue Hoffnung für mich gebe. Instinktiv wußte ich, daß ich sie nur dann von neuem hören konnte, wenn ich der Anweisung, zu lesen, Folge leisten würde. Voller Neugier, wenn auch mit traurigem Herzen und ohne nur im entferntesten daran zu denken, welch ein entscheidender Augenblick dies war, sagte ich die bismillah Formel-, öffnete das Buch und fing an zu lesen:

»Da die Engel sprachen: >0 Maria, siehe, Allah verkündet dir ein Wort von ihm; sein Name ist der Messias, Jesus, der Sohn der Maria, angesehen hienieden und im Jenseits und einer der Allah Nahen.
Und reden wird er mit den Menschen in der Wiege und in der Vollkraft, und er wird einer der Rechtschaffenen sein...«

Am dritten Tag nach dem Tod unseres Vaters wurde Safdar Schah als rechtmäßiges Familienoberhaupt eingesetzt. Feierlich setzten ihm zwei seiner Onkel einen von Vaters Turbanen aufs Haupt. Von nun an war er in unserer Familie der Pir und der Schah, von dem man erwartete, daß er auf religiöse Fragen eine Antwort wußte. Er würde bestimmt einen guten Pi r abgeben. Manche, die diesenTitel besaßen, waren ungebildet und abergläubisch.
Für die Dauer der vierzigtagigen Trauerzeit war das Haus voll von Nachbarn, Besuchern und murreeds mit ihren Frauen. Diese waren gekommen, um uns ihre Dienste anzubieten. Sie meinten es wirklich gut, hielten das Haus sauber und versorgten die anderen Besucher mit Essen. Außerdem brachten sie uns Kleider mit, die wir der Höflichkeit halber auch anziehen mußten.
»Diese Kleider sind Gewänder des Todes, nicht des Lebens. Sie erinnern mich immer wieder an das, was geschehen ist«, sagte Anis Bibi und zupfte voll Unbehagen an ihrem shalwar kameeze herum.
Die Trauerzeit endete mit zwei speziellen Ereignissen. Das Grab wurde mit Zement überzogen und ein Gedenkstein errichtet. Dann wurden alle zur traditionellen Trauerabschlußfeier, der chalisvanh, . eingeladen
Ein großes Zelt wurde aufgestellt und die Versorgung der Gäste einem Restaurant am Ort übertragen. Dieses ließ einige Kochherde aufstellen und 150 riesigeTöpfe mit Reis füllen. Es gab chick pea pilau (Erbsen mit Hammelfleisch und süßem Reis), wobei alle auf durrees auf der Erde saßen und mit ihren Fingern von Blechtelern  aßen.
Ich nahm nicht an der Feierlichkeit teil, weil ich es schrecklich fand, wegen meiner Behinderung angestarrt und bemitleidet zu werden, aber ich ließ mir alles genau erzählen.
Nun war es Zeit für Safdar Schah, nach Lahore zurückzukehren, doch bevor er das tat, kam er in mein Zimmer, um mit mir  zu sprechen. Er nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem Vater so oft gesessen hatte, und man sah ihm an, daß ihm unbehaglich zumute war. In der Hand hielt er das Dokument über das Vermögen, das Vater mir vermacht hatte. Ich wußte, was er sagen wollte, und legte mir bereits im Geist eine Antwort zurecht
»Meine liebe Schwester«, begann er, »ich würde dich gern bitten, bei uns zu wohnen, wenn da nicht der Umstand wäre, daß du Onkel und Tante hier bei dir hast, die sich um dich kümmern. Wie du weißt, hat Vater dir den größten Anteil seines Vermögens hinterlassen. Dagegen habe ich natürlich nichts einzuwenden, denn Vater hat für dich stets in vorbildlicher Weise gesorgt und vor-nehmlich dein Wohlergehen und deine Bequemlichkeit im Auge gehabt. Da du nun aber eine wohlhabende Frau bist, kannst du dir aussuchen, wo du wohnen möchtest, auch wenn es Labore ist.«
Ich unterbrach ihn mit den Worten: »Danke, mein Bruder, aber ich möchte dieses Haus, in dem ich aufgewachsen bin, wirklich nicht verlassen. Ich möchte nicht nach Lahore ziehen.«
Mein Bruder sah mich prüfend an. »ist es denn gut für dich, wenn du hier bleibst und grübelst?«
»Grübeln würde ich vermutlich auch in Lahore. Hier habe ich meine vertraute Umgebung«, gab ich zurück. Den tieferer Grund, warum ich bleiben wollte, verriet ich nicht -, daß ich nur hier in Ruhe und Ungestörtheit den Koran nach Jesus, dem Propheten und Heiler. durchforschen konnte.
»Nun gut, wenn du so denkst, dann ist es mir recht«, sagte Safdar Schah. Er schien erleichtert zu sein. »In diesem Falle sollten wir
dann jetzt also Vaters letzten Wunsch hinsichtlich deines Vermögens erfüllen.«
Es wurde vereinbart, daß Safdar Schah Geld auf der Bank in Lahore deponieren sollte, das ich nach Bedarf abheben konnte. Als Haushaltsvorstand würde ich allmonatlich einen Scheck auf die »Muslim Commercial Bank« ausstellen, mit dem die laufenden Kosten bestritten werden konnten. Onkel würde dann jeweils von mir genug für den Unterhalt des Hauses erhalten. Mein Bruder Safdar Schah wollte uns zweimal im Monat besuchen, um den Kontostand mit mir durchzugehen.
»Ich weiß, daß du alles ordentlich handhaben wirst«, sagte Safdar Schah. »Vater hat bereits zu seinen Lebzeiten großes Vertrauen in dich gesetzt.«
Befriedigt über diese Vereinbarung, reiste mein Bruder ab. Und dann ging einer nach dem anderen fort, bis ich allein übriggeblieben war, ohne einen einzigen engen Vertrauten oder guten Freund, der meine Einsamkeit geteilt hätte. Trotzdem konnte ich mich nicht über Mangel an Gesellschaft beklagen.
Als mein Bruder abgereist war, kam Tante zu mir ins Zimmer.
»Du hast es wirklich gut, daß man dir so viel Vertrauen entgegenbringt«, sagte sie. »Als ich so alt war wie du, wäre es für eine Frau undenkbar gewesen, so gut über geschäftliche Dinge Bescheid zu wissen... aber dein Vater - gesegnet sei sein Andenken - hat dich wie einen seiner Söhne behandelt.«
Als sie das Zimmer verlassen hatte und mich von neuem eine tiefe Stille umgab, öffnete ich meinen Urdu-Koran und las noch einmal die Stelle aus der Sure »Das Haus Imrän«, die für mich inzwischen eine solch zentrale Bedeutung gewonnen hatte:

»Ich will heilen den Mutterblinden und Aussätzigen und will die Toten lebendig machen mit Allahs Erlaubnis...

Es gab vieles, was ich noch nicht verstand. Viele kluge und gelehrte Leute hatten versucht, Erklärungen über den Propheten Jesus abzugeben, der, wie diese Sure es sagte, ein geschaffenes Wesen war, ein Gebilde aus Staub wie Adam, und der trotzdem durch die Macht Allahs alle diese Wunder vollbringen konnte. Ich zweifelte nicht daran, daß er ein bedeutender Mann gewesen war, aber wer war dieser Prophet wirklich, daß er um meine Not wußte und vom Himmel her zu mir gesprochen hatte, als ob er lebendig sei?
Ich hatte meinen liebsten Gefährten verloren, und das Leben lag öde und leer vor mir. Trotzdem war ein winziges Samenkorn des Suchens und der neuen Hoffnung in mein Herz gefallen. Eines Tages, das wußte ich, würde ich das Geheimnis dieses rätselhaften Propheten lösen können, der sich hinter den Seiten des Korans verbarg.

Teil 3 als Fortsetzung folgt

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