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Verfasser: Gunar
Datum: Donnerstag, den 7. August 2003, um 13:08 Uhr
Betrifft: Ein ehemaliger Zeuge Jehovas geht auf einen Jahreskongress

Süddeutsche Zeitung
05.08.2003

Religions-Ostalgie

Mumientrocken, raunend, und bitte nicht am Pillermann spielen: Ein ehemaliger Zeuge Jehovas geht auf einen Jahreskongress

Den letzten Jehovas Zeugen-Kongress hatte ich 1978 besucht. Mit dreizehn. Damals stand ich kurz davor, mich von Gottes auserwähltem Volk zu verabschieden. Ich weiß noch, dass ich am Ende des mehrtägigen Sektenkirchentages durchatmete und nicht ohne pubertäres Pathos dachte: „Das war’s! Nie wieder!“

Ich wollte einfach nicht mehr. Nicht mehr an drei Tagen in der Woche in die „Versammlung“ gehen und den zehrenden Vorträgen lauschen. Nicht mehr sonntags an der Seite eines Erwachsenen predigend von Tür zu Tür schlurfen und dabei jedesmal befürchten, einer meiner Mitschüler könnte öffnen, mich auslachen und dann beim allmontäglichen „Wer hat am Wochenende die schärfste Geschichte erlebt“-Wettbewerb mit meinem Auftritt als Jehova-Hausierer punkten. Ich wollte auch keine doofen Schlipse und Sakkos mehr tragen. Vor allem aber wollte ich mir keine Angst mehr machen lassen. Von niemandem.

Seit meine Mutter – von einer unappetitlichen Scheidung demoralisiert – einem Haus-zu-Haus-Prediger mit Wachtturm auf den Leim gegangen war und sich ein Jahr später in einem Hallenbad hatte taufen lassen, versetzten mich die Zeugen in Furcht und Schrecken. Sie erzählten mir siebenjährigem Knirps, dass überall Dämonen lauerten, die mich auf ihre Seite ziehen wollten. Nicht im metaphorischen Sinne, nein real: Alles voller Dämonen, die ganze Welt! Sie drohten mit „Harmagedon“, dem „Ende des bösen Systems der Dinge“, bei dem Jehova alle Ungläubigen vernichten würde und nur die treuesten und eifrigsten seiner Zeugen überleben ließe. Und dies sollte nicht irgendwann geschehen, sondern 1975. Für einen Zehnjährigen, der natürlich ständig irgendetwas biblisch Illegales tut, war das ein Jahr der Dauerpanik.

Weltende? Hat keiner behauptet

Als sich die Prophezeiung am 1. Januar 1976 immer noch nicht erfüllt hatte, war ich spontan erleichtert, im Gegensatz zu vielen verstörten Zeugen, denen es den Boden unter den Füßen wegzog. Die Sektenchefs in der Wachtturm-Zentrale in Brooklyn ließen kaltschnäuzig verlauten, die Gläubigen seien selbst schuld, die Organisation hätte nie ein definitives Datum für den Weltuntergang genannt. Die offizielle Endzeitberechnung besage lediglich, dass ab 1975 jeden Tag mit dem großen Knall gerechnet werden müsse. Die Gemeinde schluckte die faule Ausrede; der Kampf ging weiter.

Es folgten zwei weitere hysterisch-angstvolle Jahre, bis sich plötzlich, warum auch immer, ein unerwarteter Abnutzungseffekt einstellte: Meine Angst ließ nach! Und das fühlte sich gut an. Gleichzeitig wuchs der Neid auf die „Weltmenschen“. Darauf, dass sie nicht täglich ein schlechtes Gewissen haben mussten, dass sie denken durften, was sie wollten, dass sie einfach so Spaß haben konnten. Und obwohl ich nicht wirklich sicher war, das Richtige zu tun und noch einige Zeit unter Schuldgefühlen und Alpträumen litt, entschied ich mich schließlich dazu, das Risiko einzugehen und fortan ein Leben in Sünde zu führen. Zwar musste ich noch ein hartes Dreivierteljahr mit unzähligen Schreiereien und stundenlangen Diskussionen hinter mich bringen, bis alle Verantwortlichen einsahen, dass sie mich endgültig an den Satan verloren hatten, aber dann war tatsächlich Ruhe im Karton. Auch meine Mutter sprach das Thema danach nie mehr an. Ich hatte nichts mehr mit den Zeugen zu tun. Bis zu diesem Sommer.

Als in der Zeitung stand, dass der „Bezirkskongress 2003“ in Braunschweig, meinem Lebensmittelpunkt, stattfindenden würde, beschloss ich, in einer Mischung aus schriftstellerischer Neugier und düsterer Sentimentalität, ihn zu besuchen. Veranstaltungsort war ein Fußballstadion, in dem ansonsten der tragische Traditionsverein Eintracht Braunschweig Saison für Saison von seinen Gegnern gedemütigt, gekreuzigt und verscharrt wird – um dann doch immer wieder von den Toten aufzuerstehen. Mythischer Boden also, ein Ort der tiefen Religiosität. Statt mit gegeißelten Eintracht-Gläubigen waren die Ränge nun aber mit rund 10 000 niedersächsischen Zeugen und ihren überforderten und quengelnden Kindern gefüllt, die drei Tage lang die Seele strammstehen lassen wollten.

An der Struktur und den Inhalten der Kongresse hat sich seit 1978 nichts geändert: Das täglich sechsstündige Programm bestand fast ausschließlich aus endlosen, mumientrockenen Ansprachen, breiigen und mit Bibelzitaten gespickten Vorträgen, in denen vor „Hurerei“, Bluttransfusionen, höherer Bildung und „spiritismusverherrlichenden Fernsehsendungen“ gewarnt wurde. Betitelt waren die Vorträge entweder biblisch-bürokratisch „Ein Leben in unversehrter Lauterkeit führen“ oder ratgeberisch-handfest „Höre nicht auf die Stimme von Fremden“. Mit den „Fremdstimmen“ waren in erster Linie Abtrünnige gemeint, die – so der Redner – alles daran setzten, die Zeugen mit in den Abgrund zu ziehen. Deswegen solle man sofort „flüchten“, wenn ein Abtrünniger versuche, sein teuflisches Werk zu tun, sei es von Angesicht zu Angesicht, im Fernsehen oder gar im Internet.

Wie üblich blieben die Warnungen raunend unkonkret, um Zweifelnden nicht etwa noch häretische Surftipps zu geben. So wurde auch nur nebulös von „verleumderischen Vorwürfen“ gesprochen, die in letzter Zeit gegen „Gottes Volk“ vorgebracht würden. Es ging dabei um einige öffentlich gewordene Fälle von Kindesmissbrauch und den Versuch der Wachtturm-Gesellschaft, diese zu vertuschen. Traditionell reagieren die Zeugen auf solche Angriffe mit Schweigen oder ablenkender Gegenpropaganda. Kindesmissbrauch? Papperlapapp – wir lieben unsere Kinder. Also bekamen alle Kongressteilnehmer kostenlos das neue Kinderbuch „Lerne von dem großen Lehrer“ überreicht, in dem die abergläubische und totalitäre Weltsicht der Gesellschaft sehr schön in einer auch für Kinder leicht verständlichen Sprache zusammengefasst wird. Im Zusammenhang mit den Missbrauchs-Vorwürfen fasziniert besonders die delikate Melange aus Lustfeindlichkeit und Sexbesessenheit: „Zum Beispiel gefällt es den Dämonen, wenn Jungs und Mädchen gegenseitig mit ihrem Penis und ihrer Scheide spielen. Wir möchten den Dämonen aber keinen Gefallen tun, stimmt’s?“

Die gruseligsten Erinnerungen stiegen wieder auf, ich spürte das dringende Bedürfnis, sofort nach Hause zu gehen, Gott zu fluchen und eine Marilyn Manson-CD einzulegen. Noch beängstigender waren allerdings die gelegentlich aufwallenden positiven Erinnerungen, die mir für kurze Momente ein kuscheliges Heimkehrer-Gefühl vermittelten. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine Art Religions-Ostalgie. Wie in der DDR war auch bei den Zeugen Jehovas „nicht immer alles nur schlecht gewesen“. Zumindest kam es mir beim Anblick der durchaus freundlichen Menschen auf einmal so vor. Ich erinnerte mich an Kinderkumpeleien, an das gute Gefühl, wenn es ein Lob gab für das flüssige Vorlesen einer Bibelstelle, an meine grottenschlechten, aber mit Kopftätscheln belohnten Blockflötenauftritte im Versammlungsorchester. Und an das Gefühl, etwas Besonderes, etwas Besseres zu sein. Besser als all die verdorbenen „Weltmenschen“. Dieses Elite-Empfinden ist im Vergleich zur plumpen Angst das wesentlich raffiniertere Element der Wachtturm-Lehre. Nur damit können die weltweit sechs Millionen Zeugen den alltäglichen Hohn und Hass von außen, aber auch die Überwachung und Gängelung innerhalb ihrer Gesellschaft ertragen.

Agitprop-Bibel

Das luxuriöse Gefühl, auserwählt zu sein, produzierte eine heilige Geduld, mit der man sogar das gnadenlose Programm eines solchen Kongresses durchhalten konnte. Je länger ich unter den Privilegierten weilte, desto öfter glitt auch ich in diesen geduldigen, anspruchsreduzierten Trancezustand ab. Nach zwei Tagen war ich soweit, dass ich mich sogar auf das „Bibeldrama“ freute.

Unter Zeugen gelten diese schlichten Lehrstücke als actiongeladene Höhepunkte der Kongresse. Formal funktionieren sie wie das „Drei-Fragezeichen-Playback-Theater“, nur ohne ironische Brechung: Zu einem vorproduzierten Bibelhörspiel öffnen und schließen Statisten in historisierenden Kostümen den Mund und versuchen durch flaggensignalartiges Gestikulieren auch noch in 150 Meter Entfernung sichtbar zu sein. Obwohl das Stück ohne jede Dynamik vor sich hin plätscherte, kam es gut an. Auch ich war begeistert. Vor allem weil mir während dieses durch und durch humorlosen und ästhetisch nicht mehr fassbaren Agitproptheaters klar wurde, dass ich mir den letzten Nachmittag doch würde schenken müssen. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte genug. Mal wieder.

Heilfroh, mich vor 25 Jahren vom Glaubensacker gemacht zu haben, radelte ich nach Hause. Als ich bemerkte, dass mir dabei trotzdem ein wenig wehmütig ums Herz wurde, verstand ich, wie recht Wiglaf Droste doch hatte, als er sang: „Schon seltsam / wie leicht man vergisst/ dass alles was man tut / für immer ist“. So oder so.

HARTMUT EL KURDI

Quelle

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