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der Beitrag:
Verfasser: Nyu
Datum: Mittwoch, den 18. Juni 2003, um 18:05 Uhr
Betrifft: mormonische Ethik

Der folgende Beitrag ist immer länger geworden und hat nach und nach mehr und mehr Gestalt angenommen. Ich möchte vorwegschicken, dass ich nicht von mir behaupte, ein Wissenschaftler zu sein. Daher zitiere ich auch nicht mit Belegen und Nachweisen und schreibe auch nicht in wissenschaftlicher Methodik. Auf der anderen Seite habe ich auch nichts zu verteidigen und erarbeite hier einen Erklärungsversuch für mich selbst. Irgend einen.
Ich stelle aber die Bedingung an diese Auseinandersetzung mit mir, dass sie reflektiert genug ist, um meiner eigenen kritischen Prüfung standzuhalten.

Probleme:
- ich selber habe einmal mit einem ehemaligen Bischof zusammengearbeitet, mit dem zusammen ich Investmentfonds und Versicherungen verkauft habe. Er machte eines Tages einen grossen Deal. Ein Mitglied legte auf sein Anregen hin eine sehr grosse sechsstellige Summe aus einer Erbschaft in Investmentfonds an. Das war gegen Anfang 2000. Wir wissen, was mit den Tech-Aktien ab März 2000 passierte. Seine Vorgesetzten betrogen und belogen mich zu mehreren Anlässen, was zu grossen Verlusten führte, die meine Familie und mich fast in den Ruin getrieben hätten. Auch er nahm meine Naivität und Blödheit stillschweigend hin und profitierte davon, dass ich das Gesetz brach, was rechtliche Konsequenzen nach sich zog. Er war fein raus und seine Vorgesetzten auch. Er wusste, dass ich das Gesetz brach, was ich aber nicht realisierte und nahm es stillschweigend hin. Später verursachte sein finanzieller Rat (und auch die Abwesenheit davon) grossen finanziellen Verlust in der Familie meiner Frau. Er ist offiziell unerwünscht in dieser höchst gastfreundlichen Familie, seinen Fuss über die Türschwelle zu setzen.
- Ein Bekannter von mir wurde wegen Betrugsverdachts - da er für die Kirche arbeitete - von der Kirche durch alle Instanzen gescheucht. Später stellte sich heraus, dass das Geld (eine nicht unerhebliche Summe) bloss irgendwo in den Papieren der Kirchenverwaltung verbuddelt war.
- In meiner Zeit als Gemeindeleiter einer kleinen Gemeinde in Norddeutschland mieteten wir eine heruntergekommene ehemalige Zahntechnikerpraxis als Gemeinderäume, die auch viel zu klein war. Die Stühle hatten den siebziger Jahre Stil, grün und waren brüchig. Den unverkennbaren Geruch der viel zu kleinen Toiletten im Nachbarhaus habe ich heute noch in er Nase, wenn ich mich daran erinnern will.
Ich erinnerte mich zu dieser Zeit nicht so gerne an einen Zweig, den ich im US-Bundesstaat New York kennengelernt hatte. Es war ein Zweig, der leicht anwuchs. Sie hatten ein Phase 1 Gebäude und als ich ankam, waren gerade die Baulichkeiten für ein Phase 2 Gebäude abgeschlossen. Standard Basketballfeld. Da das noch recht neue Versammlungshaus "zu klein" geworden war, sollte diese Erweiterung auf Phase 2 vorgenommen werden. Der Zweigpräsident stimmte dieser baulichen Massnahme zur Vergrösserung der eigenen Versammlungsräume nur unter der Bedingung zu, dass der Zweig eine Pfeiffenorgel erhielt. Der Zweigpräsident machte Druck. Der Zweig Oneonta, N.Y. erhielt daraufhin eine grosse Pfeiffenorgel zusätzlich zum Ausbau, die eigentlich nur ihm (ein gescheiterter Musiker) etwas bedeutete.
- Ein alter Bruder aus Norddeutschland wurde von einem Mitglied nachweislich um über 600.000 DM geprellt. Der Bruder hat seitdem ein sehr gespaltenes Verhältnis zur Kirche insgesamt und hat diese Sache nie vergeben können.
- Eine Pfahlpräsidentschaft in Süddeutschland ist in einen skandalösen mehrfachen Betrugsfall im mehrstelligen Millionenbereich verwickelt und trieb Menschen damit in den finanziellen Ruin
- Mitglieder, denen von anderen Mitgliedern kritische Fragen gestellt bekommen, kommen sehr häufig mit diesen Ambivalenzen nicht klar und Grenzen den Zweifler aus, anstatt auf gemeinsamen Fundamenten zu bauen.
 
Ich gehe jetzt einmal auf Dinge ein, die mir noch so aufgefallen sind.
- die Heiligen der Letzten Tage betrachten weltlichen Besitz als einen Segen von Gott und ein Zeichen dafür, dass Gott sie liebt. Umfangreicher weltlicher Besitz eines Heiligen der Letzten Tage, der nachweislich keinen Zehnten bezahlt, wird mit gemischten Gefühlen betrachtet und im schlimmsten Fall als ein Segen des Teufels.
- Die Menschen mögen ihre unterschiedlichen Philosophien haben, nach denen sie ihre verschiedenen moralischen und ethischen Vorstellungen schneidern aber bei Mormonen gilt Gott als abschliessender Massstab für Gut und Böse, so dass in besonderen Fällen ethisch zweifelhaft gehandelt wird (z.B. Ausschluss von Homosexuellen mit der Begründung von unehelichem Geschlechtsverkehr und dies trotz der Tatsache, dass die Eheschliessung von Homosexuellen in manchen Ländern erlaubt ist).
- Die eigene Kirchengeschichte wird mystifiziert und ausser Kontext falsch und einseitig dargestellt. Abgesplitterte Glaubensrichtungen werden dämonisiert.
- Der Ratschluss einer Generalauthorität wird mit Verweis auf die eigene Vollmacht und Amtsauthorität als abschliessend betrachtet.
- Die Heiligen der Letzten Tage betrachten eine utopistische Theokratie als ideale Regierungsform, die es unter Jesu Christi Herrschaft in einem schon seit 160 Jahren nicht mehr allzu fernen „Millenium“ auszuüben gilt. Die "Kinder Israels" sind die leitenden Beamten dieser Regierung in der die Gewaltenteilung aufgehoben sein wird. Geld wird es dann nach und nach keines mehr geben. Vergleiche mit dem Mullah Regime des Iran oder den Taliban oder den von der katholischen Kirche bestimmten Jahrhunderten in Europa werden abgelehnt, da man ja eigentlich mit den Mitteln nicht übereinstimmt, dennoch aber strukturell dieselben Voraussetzungen schafft.
- Das Zwischenspiel bei Mountain Meadows wurde durch die blinde Gefolgschaft von hörigen und überzeugten Gotteskriegern ermöglicht.

Fragen: 
Ich werfe diese Punkte auf, um mir eine Frage zu stellen:
Wie und woraus definiert sich kulturell (und nicht offiziell) die mormonische Ethik und wie sieht diese aus? Was bestimmt, wie ein Heiliger der Letzten Tage den Unterschied zwischen Gut und Böse definiert?

Antworten: 
Mir war schon vor einigen Jahren aufgefallen, dass die Heiligen der Letzten Tage zumindest in Norddeutschland schon immer auch deshalb ein wenig merkwürdig waren, weil sie offensichtliche Defizite in ihrer Persönlichkeit auf die lange Bank des "ewigen Fortschritts" schoben. Viele Probleme wurden erst dadurch so gross, weil sich aus der mormonischen Ethik und Kultur ein sicherer Hafen ergab ("wir sind ja die einzig wahre Kirche und ich trage das Priestertum") der die Mitglieder einlullte. Beispiele habe ich oben ja schon angeführt. Weitere Auswirkungen sehe ich aber auch in folgenden Tendenzen:
- unpassende Kleidung bei festlichen Veranstaltungen und viel zu spätes Erscheinen
- muffelige Unfreundlichkeit neben überschwänglicher Freundlichkeit
- eine entspannte Alles-wird-gut-Einstellung
- emotionale Ausbrüche und Labilität in der Öffentlichkeit
- vermehrt soziale Grenzgänger und Sonderfälle
- ein verteufeln des gesunden Menschenverstandes in der Diskussion
- Bereitschaft, die eigene Entscheidungsfreiheit zu abstrahieren und an Authoritäten oder "Gott" abzugeben
- übertriebener Konservatismus neben übertriebenem Liberalismus
- Abgrenzung von der "Welt", die schlecht ist und immer schlechter wird. (Obwohl Gordon Hinckley immer wieder betont, wie wunderbar dieses Zeitalter ist und wie viele Möglichkeiten die Jugend heute hat und so weiter.) D.h. also, eine Unfähigkeit, die Welt, die kompliziert ist und die ich nicht verstehe, zu integrieren und einzubeziehen.

Ich glaube, dass die Kirche soziologisch noch sehr stark unter ihrer eigenen Geschichte leidet, sowohl lokal und regional als auch global und auch in Utah. Gleichzeitig bezieht sie eine fundamentalistische Stellung in der Gesellschaft.
Dieses Leiden sieht man in der Tatsache, dass überwiegend nur reiche, amerikanische, alte Männer die Möglichkeit erhalten, die Kirche zu leiten. Man sieht es in dem Pionierkult und dem Mythos (z.B. erste Vision, Wunder in Kirtland und Nauvoo, Engelserscheiungen usw.) und den alten Werten, die 1zu1 in die heutige Realität übertragen werden (z.B. eine von vielen Afro-Amerikanern besuchte Gemeinde in Oakland, Kalifornien, die wegen ihres vermehrten Gospelgesangs von einer Generalauthorität zur Umkehr gerufen wurde..."dies ist nicht die Art der Andacht der Heiligen")
Die Kirche stammt gesellschaftlich und in ihren Wurzeln aus einer Kultur, die viele viele Meilen von der nächsten Siedlung entfernt ihre Zelte aufschlug und sich entwickelte, weil keiner sie mehr wollte. Sie betrachtete ein ungeheuer komplexes Konstrukt von Geboten, Philosophien, Regeln, Mythen, moralischen und ethischen Richtlinien, Ansprachen und Aussagen und literarischen Werken von mehr oder weniger "wichtigen" Personen als ihren Katechismus und allein-seeligmachende und allein-vertrauenswürdige Doktrin.
Da die eigene Religion schon für sich selbst genug Tiefgang hat, so dass man zwei Lebenszeiten mit dem Studium des Mormonismus zubringen kann, um alles gelesen und gesehen zu haben, sieht man ausserhalb der eigenen Religion eben sehr viel weniger.
Witzigerweise mag man dann ganz überrascht sein, wenn bestimmte Dinge in der „Welt“ Sinn zu machen scheinen und „wahr“ sind und man dann behauptet, dass der Verfasser oder Gestalter (mormonisch) „inspiriert“ gewesen sein muss, sonst hätte er wohl kaum so etwas schaffen können (Bsp: amerikanische Verfassung, deren Authoren natürlich schon posthum mormonisch getauft sind oder die alten Ägypter, die natürlich auch schon die Zeichen und Kennzeichen und bestimmte Doktrinen kannten, laut Hugh Nibley, Temple and Cosmos).
Das eigene Universum wird also durch die Brille mormischer Kultur und Ethik gesehen.
 
Ein weitere entscheidender Faktor ist die Beziehung des Heiligen der Letzten Tage zu seinem Gott.
„Der Mensch wird aus Gnade errettet nach allem, was er tun kann“
„und würdet ihr alle Tage eures Lebens im Dienste eures Gottes verbringen, so wäret ihr doch unnütze Knechte“
„bis in den Staub hinab demütigen“
„Glaube ohne Werke ist tot“
Diese Lehre schwingt im Selbstverständnis des Heiligen mit. Die Gnade Gottes ist gross und mächtig aber letztlich doch abhängig von der eigenen Leistung. Gott ist also nicht zufriedenzustellen. Viele ehemalige Mitglieder sind verbittert wegen des „Leistungsevangeliums“, dass sie über viele Jahre zu erdrücken schien und in die emotionale Instabilität oder Konformität trieb und wettern gegen die daraus resultierenden Probleme an. Gott und die Kirche fordern den Gehorsam ein. Die Kirche hat es in solchen Fällen oft versäumt, eine Brücke zu bauen und diese Menschen zu unterstützen.
Damit wenigstens der Kirche die eigene Unvollkommenheit nicht auffällt, besteht verstärkt die Chance, dass man kulturell „ein guter Heiliger“ aber sich im Verborgenen unwürdig fühlt.

Noch einen weiteren Punkt muss man in dieser Betrachtung berücksichtigen: Die Kirche ist ein Plateau für geistige Erfahrung. Manchmal erschien es mir, als würde das totale Loslassen in Gott durch Christus die Kirche zu einem Brennglas in Gottes Licht werden lassen. Ich tauchte ein in eine Welt des Mormon Tabernacle Choir, der Priestertumssegen, der Ratschläge des Bischofs und des Patriarchen und des Pfahlpräsidenten und der Bündnisse und Tempel und der geheimen Lehren, die nur durch den Geist zu ergründen waren, der Firesides und der JAE-Tagungen und letztlich auch der Wunder.
Auch heute noch weiss ich, dass ohne den festen Glauben an die Authorität Kirche diese Erlebnisse nur noch seltener möglich sein werden.
Man kennt das, die vielen Zeugnisse von Wundern und Segnungen und wundersamen Fügungen, die von den Betreffenden und einem selbst auch genauso empfunden wurden.
Das hält einen. Oft hört man das Argument, dass man nach der Loslösung von der Kirche einen falschen Heiligen Geist mit einer richtigen Vernunft ausgetauscht hat. Aber das stimmt eigentlich nicht, denn letzendlich fühlt man es anders. Und das ist auch der Grund, warum viele Exmos noch lange eine Lücke in ihrem Leben zu verspüren scheinen.
Dennoch sehen sie keinen Weg zurück, weil die Differenzen zwischen ihnen, ihrer Vernunft und Wissen (auf der einen Seite) und dem Aspruch der Kirche (auf der anderen Seite) einfach zu unüberbrückbar geworden sind.
 
Abschluss:
Aus diesem Spannungsverhältnis –kirchliche Soziologie und Kirchengeschichte, fundamentalistischer Mythos, Dogma und Katechismus, Selbstverständnis im Lichte Gottes, spirituelle Erfahrungen– entsteht ein denkbar ungünstiger Boden für eine offene Ethik der Integration und des gesunden Menschenverstandes.
Meiner Meinung nach kann die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage einen Menschen auf eine höhere Ebene der Ethik heben als er sie bis dahin kannte. Sie kann die Menschen aber auch darin behindern, sich individuell weiterzuentwickeln.
 
Ich finde, dass Letzteres genau dann erreicht ist, wenn man anfängt, unbequeme Fragen zu stellen.

Gruss,
Nyu

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