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Seite erstellt am 29.4.24 um 17:57 Uhr
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Verfasser: Elvira
Datum: Samstag, den 26. April 2003, um 18:45 Uhr
Betrifft: Spannungen ertragen

Hallo Henning,
das war schon eine natürlich positive aber doch eine Überraschung für mich, dass Du nun doch der Kirche den Rücken kehrst. Ich habe Deinen Bericht auf exmormon.org gelesen (und Du kennst meine Einstellung, dass Du uns das auf deutsch nicht vorenthalten solltest.) und muss sagen, dass Du doch einiges durchgemacht und erlebt hast und dennoch zur Kirche gestanden bist. Das hat mich beeindruckt und es hat mich wieder bestätigt, dass es eben gar nicht so ist, dass der abfällt, der die Gebote nicht hält, nicht betet, nicht studiert..... das stimmt nicht und es wäre viel zu einfach. Man fällt ab, weil die eigenen Lebenserfahrungen nicht mehr übereinstimmen mit der gepredigten HLT-Realität.

Erstaunt bin ich auch, weil es noch keine vier Wochen her ist, wo ich Dir hier gesagt habe, dass ich es auch eine Weile versucht habe als „Befreiter“ in der Kirche zu leben und damit gescheitert bin. Ich wollte Dir damals nicht zu nahe treten damit, aber nun hast Du es in so kurzer Zeit selbst gespürt.:-)

Diese Beschreibung von Dir gefällt mir ganz besonders:

>Der Loslösungsprozess vom "Morg" ist sehr schmerzvoll. Stimmungsschwankungen gehören dazu.
>Ich fühle mich, als ob ich mich auf dem Weg in die Trennung von Gott befinde, obwohl ich ihn eigentlich finden will. Es gibt einfach zu viele Gründe, die es mir unmöglich machen, in die Aktivität in der Kirche zurückzukehren.
>Ich fühle mich, als hätte ich die Krücken meines Lebens weggeworfen (so wie der Junge Forrest Gump in dem gleichnamigen Film) und muss nun lernen, selber zu laufen, ohne dieses beengende Stützgerüst.
>Ich fühle mich, als wäre ein grosser Teil meines Lebens einfach ersatzlos gestrichen worden. Ich denke, ich würde grosse Fehler machen, indem ich das Garment nicht mehr trage, indem ich nicht mehr hingehe, indem ich mit meinen Freunden einen Trinke und zu laut lache.

Als ich noch in der akuten Ablösungsphase war, da hatte ich auch ständig solch widersprüchliche Gedanken und als Mormone vermutet man dahinter ja sofort den Satan. Dazu weiter unten noch was.
Später als der Austritt hinter mir lag war es dann auch noch so dass, ich besonders an Sonntagen dasaß und wusste, dass ich um nichts in der Welt zurück in die Kirche wollte oder gar nur eine Versammlung besuchen, aber es schien mir etwas zu fehlen.
Als Mormonin war ich ständig in Zeitnot und Stress, dann plötzlich war so viel freie Zeit da, weil wie Du es ausdrückst, ein Teil des Lebens wirklich ersatzlos gestrichen war. Dann kamen Phasen in denen ich mich unbändig an meinem neuen Leben freute, aber auch Zeiten in denen ich trauerte, weil ein Lebensabschnitt vorbei war und ich wusste, dass ich mich in dieser Zeit selbst um vieles gebracht hatte.

>Daher lebe ich lieber mit Schuldgefühlen, die ich nur sehr schwer kontrollieren kann, folge aber lieber meinem Gewissen, als dass ich ohne die Schuldgefühle lebe, mein Gewissen aber missachte.

Das ist doch eine absurde Situation. Das Gewissen ist doch eigentlich dazu da, uns zu warnen und den Weg zu weisen. Wenn man das Glück hatte, in einer halbwegs normalen Familie aufzuwachsen, dann findet eine Gewissensbildung statt und später entwickeln sich auf dieser Grundlage weitere ethische Werte.

Es war doch Dein Gewissen, das Dich gewarnt hat davor, Dein Leben in und mit der Kirche weiter zuführen. Woher also die Schuldgefühle? Wenn Du die hast, wenn Du was trinkst oder das Garment nicht trägst, dann lass das einstweilen eben bleiben. Das antrainierte Mormonengewissen, das geschult ist, ganz bestimmte Dinge (WdW, Zehnter, Versammlungsbesuch, beten, studieren, Tempelbündnisse halten.....) als richtig oder als falsch zu vermelden, muss man langsam wieder abtrainieren. Du bist viele Jahre in Versammlungen gewesen, hast Belehrungen bekommen und gegeben und bei so vielem dabei ging es nur um die rechte, mormonische Lebensweise. Es ist also gut möglich, dass Dein Kopf längst befreit ist, aber die angelernten Mechanismen Schuld zu verspüren sind eben noch aktiv.
Eine ziemlich lange Zeit nachdem ich die Kirche längst verlassen hatte, habe ich meine erste Tasse Kaffee getrunken, nicht aus Genuss sondern weil hinter mir eine längere Phase von durchwachten Nächten, wegen meines kranken Sohnes lag und ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. In dieser Situation war der Kaffee doch eine echte Lebenshilfe aber ich weiß noch gut, dass ich unentwegt an das WdW denken musste. Also hab Geduld mit Dir und ich wünsch Dir, dass Du die Kraft hast, diese Spannungen auszuhalten.

.....und einen schönen Sonntag,

Elvira

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