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Verfasser: Gunar
Datum: Samstag, den 17. August 2002, um 1:44 Uhr
Betrifft: Polygamie - die Mormonen sind schon ein buntes Völkchen

Frankfurter Rundschau
17.08.2002

Land der Göttergatten

1890 mussten Utahs Mormonen der Polygamie abschwören. Inzwischen steht die Vielweiberei wieder in voller Blüte - bei mindestens 30000 Fundamentalisten. In manchen Orten sollten sich Reisende in Acht nehmen.

Von Ole Helmhausen

Rowenna Erickson dämmerte es erst, als es fast zu spät war. Heute fragt sie sich, wie sie dem Propheten glauben konnte, der ihr erzählte, sie würde im nächsten Leben als Göttin herrschen, wenn sie ihren Ehemann mit anderen Frauen teile. Und dass sie der Teufel hole, falls sie die Polygamie, das so genannte Heilsprinzip der mormonischen Fundamentalisten Utahs, verrate und sich der Welt zuwende. Heute lebt Rowenna allein in Taylorsville, einer Vorstadt von Salt Lake City. Durch das Küchenfenster ihres kleinen Bungalows hört die Mittfünfzigerin den Verkehrslärm der Interstate Richtung Las Vegas, dahinter sieht sie die braune Mauer der Rocky Mountains. Von ihrem Linoleumfußboden könnte man essen. Eine Kuckucksuhr meldet jede volle Stunde. Die stämmige kleine Frau mit dem Bubikopf lacht zu schnell, weint zu schnell: Hinter der munteren Fassade ist sie noch immer eine Schwerverletzte.

Immerhin, sie hat den Absprung geschafft, mit 35 und nach dem achten Kind. Sie war neugierig geworden. Sie begann zu lesen, heimlich, besuchte Kurse, lernte denken. Heute schüttelt sie den Kopf über das, was in ihrer religiösen Gemeinschaft passierte. Mädchen, die sich weigerten, dreimal so alte Männer zu heiraten, wurden auf einsamen Ranches isoliert, bis sie eingesehen hatten, dass Vielehe ein himmlisches Gebot ist. Männer heirateten Schwestern und Nichten, auch das, hieß es, sei Gottes Wille.

Rowenna selbst heiratete mit 20 einen Mann, der mit ihrer acht Jahre älteren Schwester verheiratet war. Die Schwester wurde depressiv, wie viele Frauen in ihrer Nachbarschaft. Der Prophet erwartete von Rowenna Kinder am Fließband, zu ihrem spirituellen Besten. Brav gebar sie eines Jahr für Jahr, brachte die Schar ohne große Hilfe der anderen Frauen durch. Für 75 Cent die Stunde jobbte sie in einem der Textiliengeschäfte, mit denen die Familie ihres Propheten Millionen-Umsätze machte. Rowennas Heimat, das war für die meiste Zeit ihres Lebens die "Latter Day Church of Christ - The Kingston Group Coop", eine fundamentalistische Splittergruppe der Mormonen, gegründet und feudal regiert von der Kingston-Familie. Der Ausstieg war nicht leicht. Freunde, selbst Familienmitglieder, wandten sich ab. Sie verlor ihren Job, die Kingstons drohten ihr. "Watch your back", hinterließ jemand auf ihrem Anrufbeantworter.

1988 traf sie Vicki Prunti, auch eine ehemalige "plural wife". Bald sprach sich ihre Geschichte herum, die beiden Frauen wurden Anlaufpunkte für Mädchen und Frauen, die ebenfalls raus aus ihren Gruppen wollten. Noch im selben Jahr gründeten sie "Tapestry against Polygamy", einen gemeinnützigen Verein zur Bekämpfung der Vielehe in Utah.

"Das ist Paul Kingston", sagt Rowenna und zeigt das Foto eines wegen Inzest und Vergewaltigung vorbestraften Mitglieds der Kingston-Familie. "Er hat 42 Frauen und sucht sie nur auf, wenn sie ihren Eisprung haben." Für Rowenna ist Polygamie gleichbedeutend mit Macht, Geld und Sex. Die Männer heiraten nur die erste Frau nach dem Gesetzbuch, die übrigen werden ihnen nach mormonischer Tradition in geheimer Zeremonie zugesprochen. "Viele Frauen, die zu uns kommen, haben keinen Beruf gelernt, keine Kontakte außerhalb ihrer Gruppen gehabt und wurden sexuell missbraucht. Sie sind ähnlich traumatisiert wie Kriegsgefangene." Derzeit leben im 2,1 Millionen Einwohner zählenden Staat Utah nach Schätzungen von Sozialarbeitern mindestens 30000 Menschen polygam. Rowenna hält 100000 für möglich. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn offiziell ist die Vielehe verboten.

Manche leben ihre religiöse Überzeugung als so genannte "Independents", andere gehören zu einer der mindestens fünf fundamentalistischen Gruppen im Staat. Die von selbst ernannten Propheten absolutistisch regierten Gruppen gründeten eigene Schulen, kassieren von ihren Mitgliedern wie im Mittelalter den Zehnten, besitzen Ladenketten und haben sogar eigene Städte errichtet. Zwei dieser Gruppen, die Kingston-Gruppe und die "Corporation of the President of the Fundamentalist Church" (FLDS), deren Mitglieder vor allem in Hildale und Colorado City leben, nehmen keine Mitglieder von außen auf. Genetische Schäden sind die Folge. "Colorado City ist die Inzest-Hauptstadt der USA", sagt Rowenna.

Die Mormonen, heute eine Glaubensgemeinschaft mit weltweit elf Millionen Mitgliedern, begannen als verhasste, quer durch Amerika getriebene Sekte. Ihr Gründer Joseph Smith (1805-1844) behauptete, ihm sei im Staat New York ein Erzengel namens Moroni erschienen. Der hätte offenbart, dass der Himmel aus drei Königreichen bestehe, von denen eines begehrenswerter sei als das andere. Jeder Gläubige habe das Zeug zum Gott, aber um im Jenseits in das nur gläubigen Mormonen vorbehaltene Königreich zu gelangen, müsse im Diesseits nach gottähnlicher Perfektion gestrebt werden, was nur mit Polygamie möglich sei.

1844 wurde Smith in Illinois von einem Mob gelyncht. Sein Nachfolger Brigham Young führte die Mormonen darauf ins herrenlose Utah. Smiths Lehre vom Heilsprinzip nahmen sie mit. Im Gebiet des großen Salt Lake gründeten sie 1847 ihr Zion, mit Salt Lake City als Hauptstadt und Young als unumschränktem Herrscher. Den Amerikanern blieb ihr Lebensstil suspekt. Erst 1890, nachdem die Kirchenoberen die Polygamie verboten hatten, durfte Utah der Union beitreten. Verärgerte Mitglieder praktizierten die Vielehe jedoch im Stillen weiter.

Die "Church of Jesus Christ of Latter-day Saints" ist bis heute stark. Der Gouverneur, zwei Senatoren und drei Kongressabgeordnete sind Mormonen, 90 Prozent der gesetzgebenden Versammlung und 90 Prozent aller Bürgermeister ebenso. Nicht zuletzt deswegen tut man sich schwer, die Polygamie zu verbieten.

Anne Wilde schreibt für die Vielehe. Die attraktive Frau, Mitte Fünfzig, ist eine von sechs Frauen eines Mannes - und glücklich damit. "Ich brauche nicht ständig einen Kerl um mich herum", sagt sie mit einer Resolutheit, die beeindruckt. Als Chefsekretärin ist sie finanziell unabhängig und hat, wie alle ihre Mit-Frauen, in Draper ein eigenes Haus. Sie gehört keiner Gruppe an. "Die glauben, sie haben die Weisheit mit Löffeln gefressen, aber dem Prinzip tun sie damit keinen Gefallen."

Auch dass man minderjährige Mädchen mit älteren Männern verheiratet, lehnt Anne entschieden ab. Deshalb hat sie mit zwei ebenfalls polygam lebenden Freundinnen das Buch Voices in Harmony geschrieben. "Wir wollten zeigen, dass in Utah Tausende von Menschen in der Vielehe glücklich sind und dass sie keineswegs nur aus Inzest und Missbrauch besteht."

Sie schrieben an 700 Frauen, die außerhalb von Gruppen in Vielehe leben und baten sie, ihre Erfahrungen mit ihnen zu teilen. 95 Antworten kamen ins Buch. Die Vielehe prüfe und stärke ihren Glauben, schreiben die Frauen, und zwinge sie täglich aufs Neue, selbstsüchtig-fleischliche von spirituellen Bedürfnissen zu trennen. Dies sei der Weg zur christlichen Liebe und am Ende zu gottähnlicher Perfektion. Dieser Weg ist steinig. Oder, wie die pragmatische Anne es ausdrückt, und dabei werden ihre Lippen plötzlich so schmal wie die einer in Hingabe zum Göttergatten Verhärmten: "Das ist verdammt harte Arbeit."

Jedes Frauenmagazin würde Anne als modern und karrierebewusst beschreiben. Im bequemen Hausanzug sitzt sie auf der Couch, beantwortet Fragen mit der Bestimmtheit und leichten Ungeduld von Managern, die keine Zeit zu verschwenden haben. Sie wirkt so organisiert und aufgeräumt wie ihr Haushalt. Ein Leben in Monogamie kann sie sich aber nicht vorstellen. Nicht nur, weil dann nichts aus dem anvisierten Götterstatus würde. Sie müsste auch auf ihren Beruf und ihren Wohlstand verzichten, glaubt sie. Jeden Abend für den Gatten kochen - welch eine Vorstellung! "In der Polygamie gibt es genauso viele verschiedene Möglichkeiten des Zusammenlebens wie in der Monogamie", sagt sie. "Eine Frau kann durchaus an ihrer Karriere basteln und ihr Einkommen mit ihrer Co-Ehefrau teilen, die lieber zuhause auf die Kinder aufpasst." Das könne man von Fall zu Fall regeln. Ohne den Mann, und das ist für Anne kein Widerspruch, gehe aber nichts. Er sei der Schlüssel zu einer erfolgreichen Vielehe. "Wenn er all seinen Kindern und Frauen das Gefühl geben kann, geliebt und respektiert zu werden, wird es gelingen."

In der Schule, im Beruf oder auf dem Bau, fast jeder hier hat schon mal mit den "pligs", wie die Polygamisten in Kurzform gerufen werden, zu tun gehabt. Leben und leben lassen, lautet die vorherrschende Meinung - vor allem bei Politikern und hohen Kirchenfunktionären. Nur wer das Risiko des politischen Selbstmords nicht scheue, mache die Polygamie zum Thema. Denn seit den 50er Jahren, als Fernsehkameras dabei waren, wie Polizeibeamte polygame Haushalte aushoben und Kinder aus den Armen ihrer Mütter rissen, um sie in monogamen Familien unterzubringen, tendiert im kinderfreundlichen Utah die öffentliche Meinung zum Status Quo. Sehr zum Ärger von Tapestry. "Utah behandelt uns wie einen Haufen hysterischer Weiber", klagt Rowenna Erickson. Dabei hat Tapestry bereits Erfolge vorzuweisen. Das Gesetz 146, das die Heirat 14-jähriger Mädchen mit Polygamisten unter Strafe stellt, wurde nach hartnäckiger Lobby-Arbeit von Rowenna und Vicki erlassen. Die Rufe nach weiteren Schritten werden lauter.

Inzwischen igeln sich die Fundi-Gruppen ein, besonders in Colorado City, woher die meisten Aussteiger stammen. Hier herrscht der greise Rulon T. Jeffs. Haarschnitte wie in den 40er Jahren, lange Ärmel selbst bei größter Hitze und weite, lange Kleider. Eltern lassen ihre halbwüchsigen Töchter von Jeffs mit erheblich älteren Männern verheiraten, denn Jeffs gilt als legitimer Nachfolger des Propheten Josef Smith. Hübsche Mädchen, weiß John, vergibt Jeffs an seine Söhne und Apostel. Er selbst soll angeblich 40 Frauen haben.

Um den schädlichen Einfluss der Außenwelt zu unterbinden, ließ er vergangenen Sommer alle Fernseher und Computer aus seiner Stadt verbannen und das College schließen. Den Turnunterricht in der Grundschule erklärte er für unspirituell.

Reisende, die auf dem Highway 389 die Staatsgrenze zwischen Utah und Arizona überqueren und zum Tanken in den Ort Colorado City fahren, sollten besser nicht fragen, warum es hier so viele hotelgroße Häuser gibt und warum in den Vorgärten so viele Kinder auf Trampolinen herum hopsen. Die Polizei drückt beide Augen zu, wenn mal wieder der Mietwagen eines allzu neugierigen Fremden zerkratzt oder die Reifen zerstochen wurden. Die Trampoline gehen auf Jeffs Turnverbot zurück. Denn weil auch Fundi-Kinder sich austoben müssen, gelten die Trampoline als Kompromiss. In den mächtigen Häusern leben polygame Familien unter einem Dach, nicht selten bis zu 50 Menschen. Oft unter menschenunwürdigen Bedingungen, sagen Sozialarbeiter. Nur: Beweisen mag das im Mormonen-Staat niemand so recht, niemand will die Polygamisten zum Feind haben.

Journalisten zum Beispiel werden rasch als solche erkannt, da haben die Mormonen ein Auge für. Sie parken einen zu, schimpfen und drohen für den Fall, dass man nicht unverzüglich das Weite sucht - gerne auch mit abgesägter Schrotflinte. So geschehen auf einem Parkplatz, am helllichten Tag vor dem Supermarkt.

http://www.fr-aktuell.de/fr/241/t241008.htm

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