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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Samstag, den 20. März 2010, um 16:04 Uhr
Betrifft: Der Wahrheitsbegriff

Lieber svenx,

Du schreibst:

> Aber warum du dich so am Schwindel anstößt, verstehe ich nicht. Klar, Rainer hat recht, es ist eine persönliche Schlussfolgerung, wenn ich etwas als Schwindel erkenne ... Selbst wenn wir Betrug definieren, gibt es eine Wahrheit.

Ich glaube, hier liegt der Hase im Pfeffer. Vermutlich haben wir im religiösen Sinne ein sehr unterschiedliches Verständnis von Wahrheit. Du hattest vor Kurzem die Errungenschaften der Aufklärung erwähnt. Ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Denkens war der Glaube, Wahrheit erkennen zu können. Man braucht nur die richtigen Methoden und muss lange genug forschen. Dann erkennt man die Wahrheit. Selbst Hegel, Marx, Darwin und Freud waren später noch der Auffassung, dass Wahrheit stets objektiv ist und man sie erfassen kann, wenn man die aktuellen Beobachtungen im historischen Kontext sieht. Im Zeitalter der Postmoderne ist das anders. Wahrheit wird mittlerweile relativ gesehen. Du räumst in Deinem Posting Folgendes ein:

> Und nochmal: ja - die Wahrheit liegt sehr oft im Auge des Betrachters, man sollte aber zumindest nach Wahrheit und Klarheit streben.

Aber es ist schwer, nach Wahrheit zu streben, wenn sie im Auge des Betrachters liegt. Ungeachtet dessen bist Du ja offensichtlich der Auffassung, dass es eine Wahrheit gibt (siehe oben), die jedoch von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Meiner Einschätzung nach ist das ein veraltetes aufklärerisches Denken. Ich schaue heute nicht mehr auf eine Tomate und sage: „Die Tomate ist rot – das ist die Wahrheit.“ Heute ziehe ich alternative Möglichkeiten mit ins Kalkül. Zum Beispiel kann ich mir die rot erscheinende Tomate unter einem Mikroskop anschauen und muss feststellen, dass in der Vergrößerung überhaupt keine rote Farbe zu erkennen ist. Ob die Tomate rot ist oder nicht, hängt also von der Perspektive ab. Abgesehen davon kann ich in Frage stellen, ob sie beim Betrachten mit bloßen Augen tatsächlich rot ist. Denn eigentlich reflektiert sie nur bestimmte Lichtfrequenzen. Es geht also um mehr als um die Frage der subjektiven Wahrnehmung einer feststehenden Wahrheit. Natürlich kann es sein, dass Du die rote Farbe anders wahrnimmst als ich oder dass einer von uns beiden farbenblind ist. Aber es geht hier darum, dass Wahrheit selbst dann in Frage gestellt werden muss, wenn sie objektiv wahrgenommen werden könnte. Die Zeiten, in denen man Wahrheit als Absolutheit betrachtet hat, sind vorbei. Auch und erst Recht im spirituellen Bereich. Es geht hierbei um mehr als um Spitzfindigkeiten oder Wortklaubereien. Man kann auf den Mormonismus und andere Religionen schauen wie auf einen ungenau gezeichneten Stadtplan (und im Grunde ist jeder Stadtplan höchst ungenau). Darauf fehlt vielleicht ein Teich, ein Gebäudekomplex oder die Geranie im Blumenkasten auf dem Balkon der Wohnung im 2. Stock der Bergstraße 7. Der Stadtplan ist nicht selbst die Wahrheit und repräsentiert sie bestenfalls extrem ungenau. Wenn man es so ausdrücken will, so ist er eine Lüge. Dennoch kann er so gezeichnet sein, dass er mich an mein Ziel bringt. Dadurch wird er für mich wiederum zur Wahrheit. Nicht im absoluten, aber im funktionalen Sinn. Mit meiner Kirche ist es ähnlich. Ich glaube fest an Gott. Und ich verdanke meiner Religion unermesslich viel. Zwar besuche ich öfters Gottesdienste anderer Konfessionen und habe einen weiten Bekanntenkreis außerhalb meiner Religion. Dennoch gibt es mir ungemein viel Kraft, mich in meiner Glaubensgemeinschaft zu engagieren und mich gemeinsam mit Gleichgesinnten an bestimmten Werten zu orientieren. Ich bin fasziniert von Joseph Smith und bin jedes Mal tief bewegt, wenn ich die Rede König Benjamins oder bestimmte andere Passagen im Buch Mormon lese. Und was das Wichtigste für mich ist: Meinem Eindruck nach tue ich genau das, was Gott von mir will, um mir tiefen inneren Frieden zu ermöglichen. Der Stadtplan führt mich also exakt dorthin, wo ich sein möchte. Es macht für mich keinen Sinn, in diesem Zusammenhang mit einem antiquierten Wahrheitsbegriff zu hantieren und ein eindimensionales Verständnis von Schwindel an den Tag zu legen. Deswegen wollte ich wissen, was derartige Ausdrücke im religiösen Kontext überhaupt bedeuten sollen. Interessanterweise hat trotz der intensiven Diskussion kein einziger Mensch in diesem Forum einen eigenständigen Definitionsvorschlag unterbreitet. Das hat mich sehr überrascht und mir zu denken gegeben. Wie dem auch sei, ich denke, dass wir beide uns in dieser Hinsicht nicht verstehen, weil wir in religiöser Hinsicht unterschiedliche Vorstellungen von Wahrheit und Schwindel haben.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

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