Das Exmo-Diskussionsforum

Beitrag 14 von 42 Beiträgen.
Seite erstellt am 28.3.24 um 21:30 Uhr
zur Nachrichtenliste
der Beitrag:
Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Sonntag, den 3. Januar 2010, um 22:28 Uhr
Betrifft: Ich bin skeptisch

Hallo JesseX,

kennen wir uns überhaupt schon? Wenn nicht, dann freut es mich jetzt, Deine Bekanntschaft zu machen. Du schreibst:

> Aber ich gestehe Dir auf jeden Fall zu, daß dies eine unselige Anordnung des Gouverneurs war, selbst wenn man die Umstände der damaligen Zeit berücksichtigen will, die seitens Manfred Troszkas zutreffend dargelegt worden sind.

Schön, dass wir uns im Hinblick auf die Überzogenheit der Reaktion von Gouverneur Boggs einig zu sein scheinen. Was die Frage angeht, inwieweit die Umstände der damaligen Zeit von Manfred zutreffend dargestellt worden sind, bin ich jedoch eher skeptisch. Wir waren damals alle nicht in Missouri oder Illinois dabei und können uns heute nur auf historische Abhandlungen stützen. Und wenn ich hier verschiedene zum Thema passende Bücher und Artikel zur Hand nehme, die mir fundiert und unvoreingenommen erscheinen, dann kann ich die dortigen Darstellungen sehr oft überhaupt nicht mit Manfreds extremen Wertungen in Einklang bringen. Ich habe mir mal die Mühe gemacht und die fraglichen Begebenheiten in verschiedenen Werken überflogen, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Ich nehme mal an, das Buch „Die Mormonen“ von Albert Mössmer ist so bekannt und verbreitet, dass es auch bei vielen Forumsteilnehmern im Regal steht. Meine Ausführungen sind deswegen für Viele hoffentlich leicht nachprüfbar. Mössmer ist kein Mormone und steht der HLT-Kirche nicht nahe. Seine Abhandlungen sind zum Teil recht kritisch, aber aus meiner Sicht niemals unfair oder überzogen. Wie stellt z.B. Mössmer nun die von Manfred als „Salz-(Hetz-)Predigt“ bezeichnete Rede von Sidney Rigdon dar? Welche Umstände führt er für die Schlägerei in dem Wahllokal von Gallatin an, die nach Manfred durch die Möglichkeit der Mormonen ausgelöst wurde, „… von heute auf morgen … durch ihr massives, geschlossenes Auftreten die anstehende Wahl zu ihren Gunsten zu entscheiden“? Welche Gründe nennt er für die Erteilung des Ausrottungsbefehls an, die laut Manfreds Erinnerung eine unglückliche „Folge von Missverständnissen oder falscher Information an den Gouverneur“ waren? Ich kann natürlich nicht auf jeden Punkt in Manfreds Darstellung eingehen. Aber belassen wir es einfach mal bei den drei eben angesprochenen Fragen, die für die Executive Order 44 offenkundig die größte Bedeutung besitzen.

Mössmer stellt Rigdon’s Rede in einen historischen Kontext und schreibt, dass viele der Versammelten mindestens einmal ihr Zuhause aufgrund von Vertreibungen verloren hatten. Sie waren nicht bereit, noch einmal klein beizugeben und zu fliehen. Stattdessen wollten sie sich bei der nächsten Auseinandersetzung verteidigen und kämpfen. Rigdon griff diese Stimmung auf und sprach anlässlich der Grundsteinlegung eines Tempels in Far West vielen Anwesenden aus dem Herzen. Er ist wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen, aber die Umstände, die zur Heftigkeit der Rede führten, stellt Mössmer wie eben erwähnt recht nachvollziehbar dar.

Die Prügelei in dem Wahllokal war laut Mössmer nicht die Folge eines massiven, geschlossenen Auftretens und des Ansinnens der Mormonen, die Wahl zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die besagte Schlägerei fand am 6.8.1838 in Gallatin statt. Mössmer schreibt, dass die Anzahl der wahlberechtigten Mormonen in dem entsprechenden County Daviess sehr gering war. Eine ernstzunehmende Einflussmöglichkeit war also nicht gegeben. Dennoch hatte sich ein Kandidat der gesetzgebenden Versammlung des Staates vorgenommen, die Mormonen aus Prinzip unter allen Umständen daran zu hindern, in Gallatin (dem Countysitz von Daviess) ihre Stimmen abzugeben. Als acht von ihnen in dem Ort ankamen, um ihr Stimmrecht auszuüben, traten ihnen vierzig bis fünfzig überwiegend angetrunkene Männer gegenüber und pöbelten sie an. Es ergab sich ein Handgemenge. Da die Sympathisanten des besagten Kandidaten fast alle unter Alkoholeinfluss standen, gingen die Mormonen aus der Schlägerei trotz ihrer deutlichen Unterzahl schnell als Sieger hervor und gaben ihre Stimmen ab.

Mössmers Ausführungen vermitteln nicht den Eindruck, als ob es sich bei den letztendlichen Auslösern für die Erteilung des Auslöschungsbefehls um eine unglückliche Folge von Missverständnissen auf Basis von Falschinformationen gehandelt hätte. Wilburn W. Boggs, der neue Gouverneur von Missouri, war vielmehr auf der Suche nach Gründen für harte Maßnahmen gegen die HLT-Kirche. Bereits in Jackson County war er als extremer Mormonenhasser aufgetreten. Bei den vermeintlichen „Missverständnissen“ handelte es sich um willkommene Anlässe, den Ausrottungsbefehl zu rechtfertigen. Es gab keine Nachforschungen, nicht einmal ein Nachfragen. Auslöser für die Executive Order 44 waren die folgenden beiden Begebenheiten: (1) Der Methodistenprediger Bogart hatte mit einer Miliz verschiedene Mormonensiedlungen angegriffen und dabei zwei Gefangene gemacht. Diese wurden von Apostel Patten mit Unterstützung von Angehörigen derselben Miliz am Crooked River befreit (die Miliz war also in sich gespalten). Patten und ein anderer Mormone verloren dabei ihr Leben. Auf der anderen Seite starb ein Mann. Dieses Ereignis interpretierte Boggs dankbar als feindlichen Akt der Mormonen. (2) Boggs hatte ein Gerücht aufgeschnappt, das sich aber schnell als haltlos erwies: Angeblich hatten sich vierzehntausend Mormonen und einige verbündete Indianer formiert, um die Stadt Richmond in Ray County angreifen. Es wäre für ihn kein Problem gewesen, dieses recht unglaubwürdig erscheinende Gerücht schnell zu überprüfen. Boggs entschied sich dazu, dies nicht zu tun und stattdessen schnell den Ausrottungsbefehl auszugeben, bevor sich die Sache aufklären konnte.

Ohne wie gesagt auf die vielen anderen Details in Manfreds Darstellung eingehen zu können (dieses Posting ist ohnehin schon sehr lang), möchte ich im Hinblick auf die Wertung der damaligen Umstände Folgendes zu bedenken geben:

Einige Offiziere der Armee verweigerten laut Mössmer zunehmend den Gehorsam, wenn es um das Einschreiten gegenüber Mormonen ging, weil sich einfach zu viele der gestreuten Gerüchte als haltlos herausstellten und das Vorgehen als völlig überzogen empfunden wurde. So ist z.B. belegt, dass einen Tag nach dem Massaker von Haun’s Mill die Mormonensiedlung Far West von zweitausend Soldaten umstellt wurde. Man zertrampelte die Felder und tötete das Vieh, um die Lebensgrundlage der Einwohner zu zerstören. Der Anführer der Gruppe, General Lucas, verlangte die Auslieferung von Joseph Smith und anderen Verantwortungsträgern als Preis dafür, die Stadt zu verschonen. Smith begab sich mit einigen Verbündeten wie vorher schon so oft anstandslos in die Hände seiner Feinde. Unmittelbar im Anschluss fiel die Miliz trotzdem über die Stadt her, plünderte die Häuser und vergewaltigte die Frauen. Die Führer der Mormonen wurden ohne Anhörung in einem spontanen Militärgerichtsverfahren zum Tode verurteilt. General Doniphan sollte das Urteil vollstrecken. Er sandte umgehend eine Mitteilung an seinen Vorgesetzten, in der es hieß: „Es ist kaltblütiger Mord. Ich werde Ihren Befehl nicht befolgen. Meine Brigade wird morgen nach Liberty marschieren; und falls Sie diese Männer hinrichten sollten, werde ich Sie, so wahr mir Gott helfe, vor einem irdischen Gericht zur Verantwortung ziehen“.

Das extrem gewalttätige und überzogene Vorgehen der Miliz und der Soldaten gegenüber den Mormonen war laut Mössmer Anlass für die Einrichtung einer vom Parlament beauftragten Untersuchungskommission. Nicht aufgrund der Verfehlungen der Mormonen, sondern aufgrund der Gewalttaten des Militärs und der feindseligen Bevölkerung stand die „Ehre Missouris auf dem Spiel“. Die Zeitungen, die vorher noch bereitwillig gegen die Mormonen gehetzt hatten, verlangten eine Aufklärung und die Herausgabe sämtlicher Informationen, die von der Regierung bislang unterdrückt worden waren. Denn die vorgebrachten Gründe für das extrem harte Vorgehen gegen die Mormonen kamen im Laufe der Zeit fast jedem in weiten Teilen unglaubwürdig vor, der auch nur ein bisschen Einblick in die Geschehnisse hatte. Von Regierungsseite wollte man das Problem unter den Teppich kehren und ließ den Mormonen Geld zukommen, um ihnen ein schnelles Verlassen des Bundesstaates zu ermöglichen. Die Sache war den Verantwortlichen einfach zu peinlich. Es konnten auch keine Gründe für eine weitere Inhaftierung der Mormonenführer gefunden werden, da sich die Anklagepunkte als unhaltbar erwiesen hatten.

Selbst hartgesottene Kirchengegner bezogen gegen Ende des Mormonenkrieges laut Mössmer eindeutig Stellung. Von dem damals recht bekannten Kritiker J. B. Turner stammt der Ausspruch: „Wir hassen den Schwindel des Mormonentums, es ist von Anfang bis zum Ende völlig verabscheuungswürdig, sowohl von seinen Grundsätzen als auch von seinen Auswirkungen.“ Doch über den Konflikt in Missouri sagte er Folgendes: „Wer begann den Streit? Waren es die Mormonen? Ist es nicht im Gegenteil allgemein bekannt, dass sie wie wilde Tiere von County zu County gejagt wurden, bevor sie verzweifelten Widerstand leisteten? Haben sie jemals, als Gemeinschaft, sich geweigert, das Gesetz zu befolgen, wenn sie dazu aufgefordert wurden, bis sie von wiederholten Bedrohungen und Angriffen von Seiten des Mobs zur Verzweiflung getrieben wurden? … Sind irgendwelche von denen, die plünderten und Mormonen öffentlich niedermetzelten, jemals gemäß ihren Verbrechen bestraft worden? Lasst das Prahlen der Mörder und das Betteln der hilflosen Kinder darauf antworten“.

Ich will die stattgefundenen Verfehlungen der Mormonen mit keiner Silbe schönreden. Allerdings halte ich es für unangemessen, die an Mormonen begangenen Gräueltaten rund um die Executive Order 44 als längst fällige und moralisch völlig gerechtfertigte Reaktion darzustellen. Deswegen distanziere ich mich auch wie gesagt von Manfreds Äußerungen. Wenn ich darum bemühe, möglichst neutrale Quellen zurate zu ziehen, die von qualifizierten Nicht-Mormonen stammen, dann ergibt sich mir so oft ein Bild, das sich mit Manfreds Interpretationen in sehr vielen Punkten einfach überhaupt nicht vereinbaren lässt. Wer dies als Zeichen von Verblendung wertet, der kann ja mal beispielsweise das Buch des recht kritischen Nicht-Mormonen Mössmer zur Hand nehmen und das Kapitel ab Seite 62 durchlesen.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

zur Nachrichtenliste
auf diesen Beitrag antworten:

nicht möglich, da das maximale Themenalter erreicht wurde.

zur Nachrichtenliste
das Themengebiet: zur Nachrichtenliste
die neuesten Beiträge in diesem Themengebiet: zur Nachrichtenliste
die neuesten Beiträge außerhalb dieses Themengebietes: zur Nachrichtenliste
zurück
www.mormonentum.de