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zum Thema Der Dorfdepp
Seite erstellt am 28.3.24 um 11:24 Uhr
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der Beitrag:
Verfasser: James
Datum: Donnerstag, den 4. Oktober 2001, um 9:33 Uhr
Betrifft: Der Dorfdepp

Bemerkenswerter "Brief" aus der Frankfurter Rundschau vom heutigen Tage (ein herzlichen Gruß auch wieder an unseren schmarotzenden Mitleser "Andreas" ("Es ist ok hier im Forum nach news zu suchen. Manches ist sehr interessant und man findet schnelle Infos, Zeitungsartikel etc.ohne lange woanders suchen zu müssen."). Man beachte das Bonmot (siehe Herv.) in ungefähr der Mitte der Zeilen. Ich bin mir recht sicher, daß der Schreiber nicht Leser dieses Forums ist, und daher keine bestimmte Person oder Personen als "Dorfdeppen" im Hintersinn hat als die Adressierte. Obwohl es ganz gut hie und da passen würde. Zufälle gibt es, schier unglaublich:

Uncle Sam und Sokrates

Ein Brief an Richard Rorty zum 70. Geburtstag

Lieber Dick,

es ist schon etwas eigenartig, den Geburtstagsglückwunsch für einen Kollegen und Nachbarn, den ich fast jeden Tag sehe, oft eine Stunde (oder mehr) bevor die Arbeit am kalifornischen Morgen richtig anfängt, es ist schon eigenartig, lieber Dick, Dir auf dem dreifachen Umweg über die deutsche Sprache, eine Frankfurter Zeitung und eine Öffentlichkeit von Mit-Lesern zu schreiben.

Aber das Risiko, so auszusehen, als wollte ich mich nur damit brüsten, Dich meinen "Kollegen und Freund" nennen zu dürfen, akzeptiere ich gerne für heute - einmal, weil ich ja tatsächlich sehr stolz darauf bin, "Richard Rortys Nachbar" zu sein und zum anderen, weil mir so ein hybrider Brief erlaubt etwas zu sagen, was mich die beiden anderen Textformen, die einem die Jubelfeste von großen Akademikern nahelegen - also weniger persönliche Geburtstagsartikel oder wirklich persönliche Geburtstagsbriefe - nicht hätten sagen lassen. Denn wozu ich Dir heute gratulieren möchte, das könnte in einem klassisch-akademischen Geburtstagsartikel fast ehrenrührig aussehen (zumal in unserem Land, dem Land der analytischen Philosophen), während es in einem ausschließlich persönlichen Brief tautologisch wäre, weil Du ohnehin schon seit langem weißt (nicht zu Deiner reinsten Freude, befürchte ich), wie mein Bild von Dick Rorty aussieht.

Ich habe ja schon mehrere (weitestgehend vergebliche) Anläufe genommen, Dich davon zu überzeugen, dass Du die - unwahrscheinliche, gebe ich sofort zu - Synthese von Uncle Sam und Sokrates bist. Der Uncle Sam-Aspekt hat Dir gefallen, weil es Deinem sehr besonderen Stil als amerikanischem Patriot (und man muss wohl dieser Tage betonen, dass wir beide dieses Wort ohne Häme verwenden) entgegenkommt, dass diese populärste aller Allegorien von Amerika selbstironisch schmeckt. Aber Sokrates, ich wusste es von Anfang an, das konnte Dir nicht passen, schon allein weil Sokrates am Anfang Deiner (bei unseren gemeinsamen Studenten so beliebten) Liste der philosophical bad guys steht. Kein anderer, sagst Du den Studenten, trägt soviel Verantwortung wie Sokrates dafür, dass die westliche Kultur WAHRHEIT immer noch mit Großbuchstaben schreibt. Dass Du vielleicht insgeheim doch an solchen Großbuchstaben festhalten möchtest, können Dir nicht einmal Deine stursten Gegner vorwerfen - aber um Dir nicht die Geburtstagslaune mit dem Sokrates dieser gefährlichen Gegner zu verderben, will ich jetzt in eine ganz andere Tonlage wechseln.

Nietzsche hat Sokrates einmal den "Rattenfänger von Athen" genannt, und wenn ich daran festhalte, dass Du für viele von Deinen Studenten und Kollegen - auch - ein Sokrates bist, so kann ich mir das leisten, weil ich Dich jeden Tag als den philosophischen "Rattenfänger von Stanford" erlebe (und "Stanford" steht hier natürlich für die gegenwärtige westliche Lese-Kultur - immerhin schreibe ich diesen Brief ja auch für die Leser einer deutschen Zeitung).

Nun kannst Du Dich wenigstens nicht mehr darüber beklagen, dass dieser Sokrates-Vergleich zu feierlich sei. Aber ist er zu philosophisch - für einen Philosophen, der sich aus reiner Lust an der Kollegen-Provokation entschieden hat, in einem Institut für "Vergleichende Literaturwissenschaft" zu lehren? Keine Sorge: das schöne Paradox, dass jener Rorty, der die ätzendsten Bemerkungen über die traditionellen Ansprüche des Faches "Philosophie" geschrieben hat, derselbe ist, der wohl mehr Studenten und Leser für die Philosophie begeistert hat als irgendein anderer philosophischer Lehrer unserer Zeit, dieses schöne Paradox will ich mir zu Ehren Deiner Geburtstagslaune verkneifen.

Aber dass Du als "Rattenfänger von Stanford" in weniger Jahren mehr Studenten und auch mehr Kollegen vom "inspirierenden Potential philosophischer Texte" (um eine Deiner eigenen Formulierungen etwas quer ins Spiel zu bringen) überzeugt hast als ganze Fakultäten in langen und langweiligen Jahrzehnten, das ist eine Tatsache, an der selbst Deine - sonst meist unwiderstehliche - Selbstironie abprallen wird (obwohl Du wirklich der einzige Professor bist, dem ich Gesten der Bescheidenheit abnehme).

Um Dir Deinen sokratischen Erfolg doch noch so schmackhaft zu machen wie eine Geburtstagstorte, möchte ich eine Unterscheidung vorschlagen - zwischen Sokrates als Sprachrohr von Platos Argumenten und der literarischen Rolle Sokrates (und nur von dem zweiten Sokrates spreche ich hier). Unsere Studenten wollen Dir zuhören, und so viele Nicht-Philosophen wollen Dich lesen (das muss Dir doch endlich schmeicheln), weil Du so erzählst (ich meine wirklich: Philosophie erzählst), dass man immer auf den nächsten Schritt gespannt ist. Außerdem möchte ich gerne ein Kompliment umadressieren, das Du einmal Jacques Derrida gemacht hast (ohne bei Derrida, befürchte ich, große Begeisterung auszulösen), das Kompliment nämlich, dass Du als einer der witzigsten Autoren in die Philosophiegeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts eingehen wirst. Zum Gestus des sokratischen Rattenfängers gehört es schließlich noch, dass Du ab und an fünf gerade sein lässt, mit anderen Worten: dass Du ab und an eine mögliche schriftstellerische Pointe eben nicht der hehren philosophischen Verpflichtung zu größtmöglicher begrifflicher Differenziertheit opferst.

Manchmal schaffst Du es sogar (wenn die Wörter Deiner Gesprächspartner sehr abstrakt und eben philosophisch werden), die Rattenfänger-Rolle mit der Rolle des Dorfdeppen (sagte neulich ein Student voller Bewunderung) zu variieren - die wir alle schon wegen ihrer performance-Qualitäten sehr genießen. Dann merken wir oft (aber immer etwas zu spät), dass das, was der Dorfdepp so sagt, ganz ernst gemeint ist - und als Provokation tief im intellektuellen Bindegewebe stecken bleibt: dass Joseph Smith, der Gründer der Mormonen-Kirche, zum Beispiel ein besserer Autor und ein noch erfolgreicherer "Firmengründer" gewesen sei als Paulus; dass es dem späten Ludwig Wittgenstein vor allem darum gegangen sei, seine Leser vor Philosophie "als Sucht und Zeitverlust" zu warnen; oder dass man in Heidegger vor allem den "großen philosophischen Lyriker" bewundern solle.

Zur Rolle des Rattenfängers von Stanford gehört es auch, dass er sich jede Frage anhört - mit so großen Augen, größerer Intensität und größtem Interesse an jedem Fragenden, dass er sich tatsächlich manchmal auch über eine Frage wirklich ärgert. Wenn Du schon nicht philosophy (no capital "P"!) verkörpern willst, lieber Dick, so bist Du doch immerhin ein wandelnder (und lesbarer) Werbespot für die Lebhaftigkeit des Denkens und für den möglichen Spaß am Denken geworden. In diesem Sinn hat sich der Ton des Alltags hier spürbar verändert, seit Du unser Kollege in Stanford geworden bist. So eine Wirkung kenne ich sonst nur von Hans-Georg Gadamer in Deutschland - aber mit dessen Namen würde ich ja doch Wörter wie "Werbespot" oder "Rattenfänger" nicht in einem Atemzug zu nennen wagen. Außerdem hast Du nicht einmal hundert Jahre gebraucht, um die Rolle des Sokrates umzudefinieren - oder vielleicht sogar: um die Rolle des Sokrates zu ersetzen.

Nun muss ich mich fragen, welche abschließend-(un-)feierlichen Worte der Bewunderung und des Danks selbst von Deiner Ironie nicht untergraben und umgekippt werden können. Vielleicht wenn ich gestehe, dass es eben so viel Spaß macht, über Dich zu reden und zu schreiben, wie es die allerbeste (un-)philosophische Unterhaltung ist, Dir zuzuhören und Dich zu lesen. Außerdem will ich noch versprechen, dass ich einen dritten Anlauf mit dem Sokrates-Vergleich nicht machen werde. Denn ich gebe Dir recht: Die Sandalen meines Nachbarn und Kollegen Richard Rorty wären wohl zu groß für den philosophischen Sokrates als seinen möglichen Nachfolger.

Very fondly,

Dein Sepp" (Herv. von mir)

Quelle unter: http://www.fr-aktuell.de/fr/140/t140002.htm

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