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der Beitrag:
Verfasser: svenx
Datum: Montag, den 23. März 2009, um 12:48 Uhr
Betrifft: extrinsische Religiosität

Endlich wieder mal ein neues Fremdwort gelernt!;-)

Aber im Ernst: Danke für deinen interessanten Beitrag Gipfelstürmer!

Denn mir fällt immer wieder auf - auch bei mir - dass sich in einigen Teilbereichen als Exmormone eine Art "verklärtes Bild" entwickelt. Die eigenen Erfahrungen haben dann zu viel Gewicht, um noch mit Abstand die Gemeinschaft bzw. die Individuen zu betrachten. Ich habe immer mal wieder Kontakt mit Mormonen (auch natürlich mit meiner Familie) - und somit noch einen gewissen Bezug zum "praktischen Leben" der Mormonen, aber auch ich ertappe mich manchmal in Stereotypen und Vorurteilen zu denken.

Um die Mormonen in Glaubensfragen mit anderen Gemeinschaften nicht zu benachteiligen, denke ich dass die Kritik in drei Teile trennen muss:

1. Der gelebte Glaube der Mitglieder
2. Systemkritik
3. Kichengeschichte

Das ist wichtig, um nicht immer alles in einen Topf zu werfen. Natürlich kann ich mich als Exmormone immer darauf berufen, dass Joseph Smith ein Betrüger war und deshalb diese Religion als „Nonsens“ zu bezeichnen ist. Das ist aber eine grobe Benachteiligung einer jungen Religionsgemeinschaft, deren Historie vielleicht besser belegt ist, als die einer Älteren, von der wir auch nicht wirklich wissen, ob sich die Dinge nun so zugetragen haben oder nicht. Unter diesem Aspekt möchte ich deinen Text kommentieren:

>ich fange hiermit einen neuen Beitrag an, weil ich Euch gerne allen auf einmal antworten möchte. Eure Ausführungen zur "Seriosität" der Missionsbemühungen der HLT-Kirche fand ich sehr interessant.

Es hat mich in meinem innersten auf Mission traurig gestimmt, dass wir so wenig Vertrauen auf den  Heiligen Geist nutzen durften. Mir wurde das einmal sehr bewusst, als wir mit einem Buddhisten sprachen. Dieser Mensch predigte ohne zu Missionieren und im Prinzip hatten wir mit unseren auswendig gelernten Diskussionen und Antworten keine Chance gegen diese überlegene, ruhige Art des Gesprächs. Wir waren (und wurden auch so geschult) – aggressive Sales Leute. Leider. Eine souveräne Kirche, die etwas zu erzählen hat und überzeugt ist vom Einfluss des heiligen Geistes stelle ich mir im Missionsprogramm anders vor.

>Auf meine Bemerkung, dass ein Einlassen auf die Gebote der HLT-Kirche keinerlei Vorteile mit sich brächte, antwortet Misery: „Natürlich gibt es Vorteile. Immerhin werden dem Anwärter neue, klare Strukturen vorgegeben. Er muss sich keine Gedanken mehr über seinen Lebensweg machen, da das Meiste bereits durch die Richtlinien der Religion vorgegeben ist … Man hat eine Perspektive, ein Ziel. Bei den Mormonen ist das Ziel in oberste Reich zu kommen und später selbst Gott zu werden.“ Außerdem betont sie die attraktive Möglichkeit, in der HLT-Kirche „hierarchisch aufzusteigen“ (zumindest als Mann) und die „ausgezeichneten Beschäftigungsmöglichkeiten“. abendrot schreibt in diesem Zusammenhang: „Außerdem winkt ja schließlich die Belohnung durch Aufnahme ins celestiale Reich, wenn alles gut geht.“ Skippy führt zur Motivation, sich der HLT-Kirche anzuschließen, Folgendes aus: „Na ja, ein paar Jahrzehnte gebe ich der Kirche aber noch, denn es wird immer Menschen geben, die sich von dieser Heilslehre angesprochen fühlen. Und wir alle hatten uns ja auch der Kirche angeschlossen, weil wir auf der Suche waren nach Sicherheit, Gemeinschaft, Bestätigung, ewiger Glückseligkeit und was auch immer. Wenn sich jemand der Kirche anschließt, hat es immer psychologische Gründe. Und erst, wenn man gelernt hat selbständig zu laufen, wirft man die Krücke (Kirche) weg, ja erst dann wird sie einem hinderlich ... Deshalb: solange es Menschen gibt, die die Kirche brauchen, wird es diese geben.“

Ich denke dies sind einige Erkenntnisse, die man erst später nach dem Ausstieg feststellt. Man weiß eigentlich nach einem gefestigten Ausstieg nicht mehr, was die Attraktivität der Kirche ausmachte und überlegt sich z. B. die o. g. Benefits. Aber ich gebe dir Recht, es gibt viele, viele Mitglieder, die nicht so „karriereorientiert“ denken. Aber eines ist klar: alle wollen ins celestiale Reich und ein möglichst gutes Leben führen. Die Tempelarbeit zeigt ja hier ganz klar den Weg auf. Und um sich zu verbessern, wird der Druck ständig erhöht, dies ist besonders ersichtlich, wenn man sich die Konferenz-Ansprachen im Liahona durchliest. Es wird definitiv nicht weniger Druck und schon immer steht das zweite Kommen des Herrn bevor.

>Die Deutlichkeit, mit der ihr die Motivation für eine aktive Mitgliedschaft in der HLT-Kirche aus Eurer Sicht beschreibt, hat mir ein paar neue Perspektiven eröffnet. Ganz ehrlich – ich meine das jetzt nicht ironisch. Wenn ich mich selber fragen würde, warum ich gerne den Gottesdienst in meiner Kirche besuche und mich zu ihr bekenne, dann hätten meine Antworten mit den von Euch genannten Beweggründen wenig zu tun. Ich sinne sehr gerne über die tiefgründigen Probleme des Lebens nach und suche nach keiner Möglichkeit, mir in dieser Hinsicht keine Gedanken mehr machen zu müssen. Die Auseinandersetzung mit meinem Glauben erfordert meiner Ansicht nach sogar das ständige Hinterfragen meines Lebensweges anstatt es zu vermeiden.

Vielleicht wäre ich ohne die Kirche vielleicht ein etwas oberflächlicherer Mensch geworden (auch wenn man so etwas nicht beweisen  kann). Natürlich lernt man durch die HLT-Kirche Dinge auch zu hinterfragen. Das passiert aber nur, weil ich Lehrsätze mit dem realen Leben ständig abgleichen muss. Die Gefahr die dabei besteht ist, dass man Dinge in Frage stellt, die mich klein machen. Daraus kann (auch bei den Mormonen) ein typisches Sektenmerkmal entstehen (aus Hugo Stamms Buch „Sekten“):
Angst und Schuldgefühle als Indoktrinationsmittel "...
Wichtige Instrumente der Indoktrination sind Angst und Schuldgefühle, mit denen praktisch alle totalitären Gruppen arbeiten. Sie pflanzen ihren Anhängern auf schwer durchschaubare Weise diese lähmenden Gefühle ein. Dabei kaschieren Sekten und Kulte die Disziplinierungsmaßnahmen als Erlösungsritual. Häufig wird die falsch verstandene Demut, die zur Selbstaufgabe führen kann, als unabdingbare Funktion der religiösen oder spirituellen Läuterung gepriesen.
Viele Gruppen mit vereinnahmender Tendenz operieren auf zwei Ebenen mit Schuldgefühlen und Ängsten. Die wirksamere liegt im ideologischen Bereich. Die Gruppen schrauben die Anforderungen, die die Heilstheorie stellt, derart hoch, dass sie die menschlichen Möglichkeiten übersteigen. Wer nach den Erfordernissen der Ideologie und der Sekte leben will, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Er lebt nicht nur in der ständigen Angst, die Rituale nicht in der angestrebten Perfektion auszuüben, sondern gleichzeitig das Heilsziel, also die religiöse oder mystische Erlösung, nicht erreichen zu können und für alle Zeiten verdammt zu bleiben. Dieser endlose Widerspruch löst bei vielen Gruppenmitgliedern traumatische Ängste aus, die sie zu weiteren Sonderleistungen anstacheln. Das Streben nach dem unerreichbaren Ziel wird zum fatalen Teufelskreis. Mit Hilfe der Indoktrination vernebeln die Sekten das Bewußtsein ihrer Anhänger und verhindern damit, daß sie dieses mystische Phantom erkennen. ..."

>Für mich stellt die Mitgliedschaft in meiner Glaubensgemeinschaft eine hervorragende Möglichkeit dar, meine Werte zu leben. Man ist unheimlich nahe an den Menschen dran und kann das umsetzen, was in Mosia 18:8-10 angesprochen wird: „… und nun, da ihr den Wunsch habt, … einer des anderen Last zu tragen, damit sie leicht sei, ja, und willens seid, mit den Trauernden zu trauern, ja, und diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen, … was habt ihr dann dagegen, euch im Namen des Herrn taufen zu lassen …?“

Ja, seit ich die HLT verlassen habe stelle ich mir oft die Frage, inwieweit ich für meine Nächsten im Sinne christlicher Nächstenliebe noch hilfreich bin. Denn ohne das gesellschaftliche Gerüst der Mormonenkirche ist es viel schwieriger „gutes zu tun“. Es ist aber nicht unmöglich, erfordert aber sehr viel mehr Eigenengagement als wenn ich meinen Dienst in der Kirche weiter verrichte würde. Deshalb hat sich meine Meinung über „ein gutes Leben“ bei den Mormonen doch stark relativiert. Im Prinzip gibt der Rahmen, durch bestimmte Programme der Kirche sehr viele Möglichkeiten Nächstenliebe zu praktizieren. Ich kann Heimlehren gehen, den Kultursaal dekorieren, im Altenheim singen, beim Umzug helfen, die Missionare zum Essen einladen, eine Ansprache/Workshop vorbereiten, für Arme durch Fastopfer spenden usw. usw. – alles unzählige Möglichkeiten gutes zu tun.
Aber: dies alles passiert i. d. R. immer nur in der Gemeinschaft, mit seinesgleichen unter der Führung von Komitees! Ich sehe das nicht alles als schlecht an, aber es sagt nichts über die innere Haltung zu den Mitmenschen und die Hilfsbereitschaft aus, denn das Gerüst macht es doch recht einfach. Außerdem wird unter diesem Aspekt sehr viel Zeit darauf verwendet, wankende Mitglieder wieder auf Linie zu bringen oder ihnen beim Halten von Geboten zu helfen. Und da sehe ich schon ein Problem: warum soll ein Bischof denken, der einem Teeanger hilft von Petting mit seiner festen Freundin umzukehren, dass er ein gutes Werk getan hat? Ich selbst weiß, was solche „Dienste“ in einem Leben anrichten können. Die Mormonenkirche produziert Probleme, die es ohne sich nicht gäbe - und meint dann in der Gemeinschaft diese Probleme zu lösen, die als Schlussfolferung zur Erlösung führen sollen.

>Aber Eure Antworten haben mich wie gesagt tatsächlich zum Nachdenken angeregt und ich habe mir folgende Frage gestellt: Was findet ein Mensch vor, der sich der HLT-Kirche anschließt, weil er Gedanken über seinen Lebensweg vermeiden will, weil er zu einer Elite gehören möchte, weil es sein Ziel ist, in einer Hierarchie aufzusteigen und später zu einem Gott zu werden, weil er von einer Gemeinschaft profitieren möchte, die im vermeintlich Sicherheit und Schutz bietet, …? Ich befürchte, ihn erwartet ein böses Erwachen, weil die in die HLT-Kirche gesetzten Hoffnungen irgendwann enttäuscht werden. Ein Verlassen der Gemeinschaft, verbunden mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein, ist oftmals die Folge.

Das ist vielleicht vielen nicht bewusst, weil sie ja gelernt haben, dass „Stolz“ ein grundübel ist. Aber natürlich sehen sich die meisten Mormonen als Elite. Interessant ist (und da sind wir wieder beim o. g. Sektenmerkmal) dass sie sich nicht persönlich als elitär betrachten, sondern sich da eher klein und unvollkommen machen, aber im großen und ganzen die Mormonenkirche mit ihrem Priestertum natürlich als Elitär ansehen, denn durch die Priestertumsmacht wurde die Welt erschaffen und alle Menschen werden durch diese Kraft erlöst. Wer da nicht Elitär denkt, ist nicht im richtigen Film, das passiert zwangsweise, ohne dass man es will.

>Ich habe mal im Wartezimmer in einer Ärztezeitschrift etwas über das Verhältnis von Glauben und Lebensqualität gelesen. Wenn man den Glauben für seine eigenen Zwecke nutzt und sich in einer Kirche engagiert, weil man sich einen sozialen Gewinn erhofft, in eine Gemeinschaft integriert werden möchte oder seinen Status verbessern will, dann schadet dies letztendlich dem Wohlbefinden. Hat man seinen Glauben jedoch verinnerlicht und lebt seine Werte im Einklang mit den von der Religion propagierten Idealen, fühlt man sich ausgeglichen und gut. Man schielt nicht nach dem „Nutzen“ des eigenen religiösen Engagements, sondern handelt auf der Grundlage eines tief verwurzelten Glaubens an Gott. Die erste Form der Motivation wird als extrinsische Religiosität, die zweite als intrinsische Religiosität bezeichnet. Menschen, für die entweder die eine oder die andere Gruppe von Beweggründen im Vordergrund steht, gibt es wohl in jeder Kirche.
Das ist eine richtige Aussage, die sich aber nicht nur auf Religion beziehen muss. Im Übrigen habe ich bei den HLTs Menschen kennen gelernt, von denen ich den Eindruck hatte, dass sie wirklich gute Christen sind. Interessanterweise waren das aber Leute die irgendwie unabhängig schienen, natürlich gläubig – aber auf ihre Weise demütig und charismatisch. Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass die Mormonenkirche solche Menschen hervorbringt.

>Ihr führt als „Vorteile“ einer Mitgliedschaft in der HLT-Kirche ausschließlich Aspekte auf, die mir selbst zunächst einmal nicht in den Sinn gekommen wären und die wohl allesamt der Kategorie „extrinsische Religiosität“ zugeordnet werden können. Wie gesagt schreibt Skippy: „Und wir alle hatten uns ja auch der Kirche angeschlossen, weil wir auf der Suche waren nach Sicherheit, Gemeinschaft, Bestätigung, ewiger Glückseligkeit und was auch immer. Wenn sich jemand der Kirche anschließt, hat es immer psychologische Gründe.“ War das bei Euch tatsächlich so? Standen bei Euch bei Eurer Bekehrung und Eurer Mitgliedschaft wirklich „extrinsische“ Motive so stark im Vordergrund?

Da ich seit Kindheit an dabei war, gab es keine echte Bekehrung. Man glaubt zunächst all das was die Eltern erzählen – ist ja klar. Und sich als Teenager aufzulehnen bedurfte eines starken Charakters, da der Druck aus Familie und Kirchenführern enorm war. Bei mir war es viel Furcht davor, Gott nicht zu gefallen und ja, auf Mission wollte ich ihm gefallen, indem ich auch mal Verantwortung übernehmen konnte. Aber generell kam ich zu den Erkenntnissen von Misery erst nach meinem Ausstieg, ich fühlte mich nie als Überflieger – sondern immer als jemand der noch viel lernen muss.

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