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der Beitrag:
Verfasser: shana
Datum: Freitag, den 31. März 2006, um 12:41 Uhr
Betrifft: "Schön war die Zeit ...."

Hier mal was zu lesen ( Artikel aus der Zeitung Die Weltwoche, Ausgabe 07/06)
für diejenigen,  die vor kurzem hier über die ’bösen 68-er’ gejammert haben, ’die den Niedergang der schönen und guten deutschen Kultur eingeleitet haben’.;-)

Bloss um etwas in den guten alten Zeiten zu schwelgen, als die Welt noch in Ordnung war.....

www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=13262&CategoryID=80

Unter der Knechtschaft Jesu Christi

Von Reinhard Mohr

Erstmals arbeitet ein Buch all das auf, was kirchliche Kinderheime im Nachkriegsdeutschland als Erziehung deuteten. Nach der Lektüre segnet man jede antiautoritäre Revolte ab.
Die fünfziger Jahre in Deutschland waren Jahre des Wiederaufbaus nach dem grossen Krieg. Noch heute strahlt diese Ära im retrospektiven Glanz von Neuanfang und wiedergefundenem Lebensglück. Die ersten VW Käfer rollten, in rein touristischer Absicht, über die Alpen, und zwischen dem Wegräumen von Trümmern und dem Neubau von Fabriken wurden Filme gedreht, die das Herz des Volkes erwärmten. Sie hiessen «Schwarzwaldmädel», «Grün ist die Heide» oder «Sissi, Schicksalsjahre einer Kaiserin». Cornelia Froboess sang «Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein...». Das deutsche Wirtschaftswunder erschien als – zugegeben: etwas spiessige – Renaissance der goldenen zwanziger Jahre.

Ein schöner Mythos. Die Wirklichkeit sah anders aus. Das fing schon bei den Kleinsten an. «Der kommt ins Heim!», hörte man damals häufiger, dachte sich aber nicht viel dabei. Keine schöne Sache, gewiss, weg von den Eltern und Spielkameraden, aber auch keine Katastrophe. Es ging ja meist nur um ein paar Jahre, und wer weiss, dem einen oder anderen mochte es auf die Sprünge helfen. Informationen darüber, wie es in den Heimen zuging, drangen kaum nach aussen.

Was die überwiegend kirchlichen Erziehungsheime betrifft, weiss man es seit dieser Woche ziemlich genau: «Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik» heisst das Buch des Berliner Spiegel-Redaktors Peter Wensierski, das gerade erschienen ist. Schon vor der Publikation sorgte es für erhebliche Unruhe in evangelischen wie katholischen Kirchenkreisen bis hoch zu Bischöfen und Kardinälen. Grund genug gibt es. Auf den kürzesten Nenner gebracht: Jahrzehntelang herrschten skandalöse Zustände in kirchlichen und staatlichen Kinderheimen, ohne dass die Behörden eingegriffen hätten.

Jenseits aller Übertreibung kann hier von systematischen Menschenrechtsverletzungen gesprochen werden, physische wie psychische Folter inklusive. Sie trieb viele der jugendlichen Opfer in den versuchten oder vollendeten Selbstmord. Auch wenn man die damals herrschenden autoritären Erziehungsvorstellungen berücksichtigt, die noch überwiegend aus dem 19.Jahrhundert stammten, besteht kein Zweifel: Ein ausgeprägter und anhaltender Sadismus durchzog den Alltag jener geschlossenen Anstalten, die «gefallene Mädchen» und «schwer erziehbare» Jungen auf den Pfad der Tugend und den Weg des Herrn zurückbringen sollten.

Martyrium im Dunkeln

Selbst wer körperliche «Züchtigung» hier und da – womöglich bei «schweren Fällen» – auch heute nicht rundweg ausschliessen möchte, wird bei der Lektüre des aufwendig recherchierten Buches erschrecken. Die brutale Brechung der Individualität und die ausgeklügelte Demütigung der Persönlichkeit der Heimkinder genossen oberste Priorität – das genaue Gegenteil einer Erziehung im Namen christlicher Nächstenliebe.

Noch heute, vierzig Jahre später, leiden viele der mehreren hunderttausend ehemaligen Heimzöglinge aus den einst dreitausend deutschen Fürsorgeanstalten unter den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit, die sie selbst Ehepartnern und nächsten Angehörigen aus Scham verschwiegen haben. Das allgemeine Schweigen über jene Vorgänge lastet umso schlimmer auf ihnen, als schon das jahrelange Martyrium sich buchstäblich im Dunkeln abspielte und bis heute von den verantwortlichen Vertretern der Kirchen offiziell geleugnet oder einfach nicht zur Kenntnis genommen wird. Von einer Bestrafung der Täter, einer umfassenden Entschuldigung und öffentlicher Rehabilitation der Opfer ganz zu schweigen. Das könnte sich nun, da die Fakten auf dem Tisch liegen, ändern.

Autor Wensierski hatte schon 2003 eine Spiegel-Geschichte zum Thema verfasst und daraufhin über fünfhundert Leserbriefe von Betroffenen erhalten. In seinem Buch zeichnet er nun das erste umfassende Bild jener Verhältnisse. So ist das Enthüllungswerk des früheren Dokumentarfilmers und Fernsehjournalisten nicht nur buchstäblich eine Befreiung für die einstigen Heimkinder, sondern auch eine aufregende Zeitreise in die fünfziger Jahre. Wensierski sprach mit fast achthundert ehemaligen Heimkindern, früheren Angestellten, Heimleitern sowie einigen Nonnen und Ordensbrüdern. In Archiven fand er verschollen geglaubte Aufzeichnungen und konfrontierte einige der Täter von damals mit ihren Opfern. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe komplettieren das Bild.

Erbrochenes gegen den Schweinehund

Gisela Nurthen war fünfzehn Jahre alt, als sie 1961 ins Dortmunder «Heim für gefallene Mädchen» kam, das von den «Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul» geführt wurde. Der Grund ihrer Einweisung war so nichtig wie bei vielen anderen ihrer Leidensgenossinnen: Sie benahm sich etwas anders als andere Mädchen ihres Alters, etwas auffälliger und lebenslustiger. Sie hatte ein Elvis-Plakat an die Wand ihres Kinderzimmers geklebt, trug gern kurze Röcke oder enge Hosen, fuhr mit Jungs auf dem Moped durch die Gegend und schrieb einen «Liebesbrief» an einen Zwölfjährigen. Zum Verhängnis wurden ihr ein Tanzabend und eine Nacht, in der sie nicht zu ihrer alleinerziehenden Mutter nach Hause gekommen war.

Ein Streifenwagen der Polizei griff sie zusammen mit einem Freund auf, und schon vierundzwanzig Stunden später entschied ein Richter, der sie nie zu Gesicht bekam, dass sie auf «Vorschlag» ihres Vormunds beim Jugendamt ins Heim verbracht werde. Ein Routinevorgang, wie er damals sehr oft vorkam: Entscheid nach Aktenlage, Denunziationen von Nachbarn eingeschlossen. «Vier Jahre dauerte die Haft hinter Klostermauern. Gisela Nurthen war ohnmächtig einem perfiden Repressionssystem frommer Schwestern ausgeliefert, die sie mit Prügeln zu Gebet, Arbeit und Schweigen zwangen. Bis heute hat die Frau das Trauma dieser unbarmherzigen Jahre nicht verwunden.» Das Heim der «barmherzigen Schwestern» war ein Zuchthaus. Von Anfang an setzte es, auch bei allergeringsten Abweichungen von der festgefügten Ordnung, Schläge und Tritte, bis Blut floss. Beschimpfungen und Verwünschungen, verbale Erniedrigungen jeder Art galten als pädagogisches Prinzip.

War das fetttriefende Billigessen auch noch so ekelhaft, es musste aufgegessen werden – auch das schon erbrochene. Der Gang zur Toilette war nur zu bestimmten Zeiten erlaubt. Wer dazwischen musste, wurde hart bestraft. Dafür weideten sich die Schwestern an der befohlenen Intimreinigung der «Sünderinnen», die sie minutiös beobachteten. Manchmal legten sie auch selbst Hand an beim Scheuern und Schrubben der gottlosen Sündenfalle. Das alles war Teil des heiligen «Kampfes gegen sich selbst», für gnadenlose «Selbstzucht» und gegen den «inneren Schweinehund».

Manchmal wurden gegen diesen auch Psychopharmaka verabreicht, wie bei Marion. Jahrelang und ohne jede ärztliche Untersuchung. Die gab es sowieso nicht. Lange Zeit war Marion später tablettensüchtig. Ein unglaublicher Höhepunkt der systematischen Quälerei war eine Art Scheinhinrichtung im Herbst 1970 (!). Eine Schwester befahl der neunjährigen Carola, mitten in der Nacht ihr eigenes Grab zu schaufeln. Im Schlafanzug. «Sie weinte, sie schluchzte, sie grub.» Dann zerrte die Magd Jesu Christi die hilflose Kleine wieder ins Heim. Bis heute ist Carola, seit ihrem 39. Lebensjahr erwerbsunfähig, in psychiatrischer Behandlung.

Tagsüber musste vielerorts im Akkord unbezahlte Zwangsarbeit verrichtet werden: zehn Stunden nähen, stopfen, waschen, mangeln, bügeln. Selbst im Schlafsaal war die Tortur noch lange nicht zu Ende. Eines Abends, das Licht war schon aus und die wachhabende Nonne gerade nicht da, sang Gisela mit Inbrunst einen Song ihres geliebten Elvis Presley. Mit einem Ruck wurde sie «aus dem Bett gerissen, über den Boden geschleift, heraus aus dem Schlafsaal, den Flur entlang bis zur ‹Klabause›, jenen gefürchteten Zellen mit Glasbausteinen anstelle von Fenstern. Die Ausstattung bestand nur aus einer Holzpritsche, einer groben Decke und einem Blecheimer mit Deckel als Toilette.»

Die meisten Heime stammten aus den zwanziger, dreissiger Jahren, und es gab nicht nur räumliche Kontinuitäten. Manche Methoden der meist pädagogisch überhaupt nicht qualifizierten Kampfschwestern knüpften fast nahtlos an die Nazizeit an. Mehr noch: Im «Kalmenhof» in Idstein etwa waren zwischen 1941 und 1945 mindestens tausend Kinder im Rahmen von Zwangssterilisierung und Euthanasie ermordet worden. Viele der «Erzieher» und Angestellten aus dieser Zeit blieben zum Teil bis in die sechziger Jahre dort beschäftigt, und erst in den achtziger Jahren wurde das Massengrab mit den Kinderskeletten freigelegt.

Von heute aus gesehen ist es eine schwarze Ironie der Geschichte, dass erst massive öffentliche Protestaktionen im Sommer 1969, an denen die späteren RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Astrid Proll und Ulrike Meinhof aktiv beteiligt waren, das allmähliche Ende der unbarmherzigen «Heimknäste» einläuteten. Eine deutsche Geschichte zwischen Naziterror, religiös verbrämter Gewalt und revolutionärer Stadtguerilla. Doch wer dieses Buch gelesen hat, wird bei allem, was gegen die «68er» vorzubringen ist, die historische Berechtigung dessen verstehen, was einst «antiautoritäre Revolte» hiess.

Selbst in der liberalen Wochenzeitung Die Zeit hatte ein Autor am 31.Oktober 1958 anlässlich eines Rock-’n’-Roll-Konzertes eine offenbar ansteckende «Epidemie» an Tanzwut diagnostiziert. Dagegen empfahl er, ganz im Geist der Zeit, die «Isolierung der Tanzwütigen», vor allem aber die «Anwendung von Prügeln und Güsse mit kaltem Wasser».

Hier noch der etwas sachlichere und längere Spiegel-Artikel vom Autor des o.g. Buches selbst:

www.spiegel.de/panorama/0,1518,400215,00.html

Spiegel-Leser kennen den Artikel wahrscheinlich schon. Ausserdem wurde das Buch und das Thema ja in den letzten Wochen in verschiedensten Medien vorgestellt und besprochen. Ich musste bei dem o.g. Artikel halt nur an die Aussagen einiger jüngerer Forumsteilnehmer denken, die hier vor kurzem von guten alten nicht selbst erlebten Zeiten ’schwärmten’...;-)

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