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Verfasser: SvenB
Datum: Mittwoch, den 5. Januar 2005, um 23:51 Uhr
Betrifft: Uchtdorf im Interview

Hab den Artikel hier noch nicht gefunden, falls schon geposted, sorry! Erschien kurz vor Weihnachten in der SZ...

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/274/45229/

Vereinigte Staaten

Kirche der Tüchtigen

Salt Lake City ist nicht nur eine der erfolgreichsten Städte der USA, sie ist auch extrem spendabel — wegen der Prinzipien, die ortsansässige Mormonen-Führer predigen.
Von Marc Hujer
  
Es ist Weihnachten, die besinnliche Zeit, und der Tempelplatz der Mormonen leuchtet so bunt wie das Vergnügungsviertel in Las Vegas. Aus den Lautsprechern scheppert Händels Messias, vor dem Informationszentrum an der Nordseite des Platzes geht im Minutentakt der Weihnachtsstern auf.

Man sieht Maria und Josef, wie sie an der Krippe stehen, lebensgroß und wetterfest, und daneben die Hirten in einer Herde abwaschbarer Kunststoffschafe.

Zu Tausenden reisen die Menschen jedes Jahr hierher, und weil Weihnachten immer auch die Zeit der Großzügigkeit ist, hat die Stadt den Parkuhren grüne Geschenkpapierhäubchen und rote Schleifen verpasst. „Zwei Stunden frei Parken“ steht darauf, und wenn man die Straße herunterschaut, die Reihe der Parkuhren entlang, dann sieht es so aus, als wäre der heilige Platz der Mormonen von rot-grünen Lollis umstellt.

Mehr als der Zehnte
Alle fünfzehn Minuten gibt es hier eine Führung über den Tempelplatz. Die Besucher können im weltgrößten Genealogie-Archiv kostenlos nach ihren Ahnen forschen. Und wer zufällig am Wochenende vor Weihnachten da ist, erhält Freikarten für den berühmten Tabernacle-Chor.

Wissenschaftlich gesprochen ist Salt Lake City die Stadt mit dem höchsten „generosity index“, dem höchsten Großzügigkeitsindex in ganz Amerika. Nach einer Studie der philantropischen Gesellschaft spenden die Bewohner im Schnitt 14,9 Prozent ihres Einkommens.

Andere amerikanische Städte folgen mit großem Abstand dahinter, Grand Rapids in Michigan etwa steht mit zehn Prozent an zweiter Stelle und Minneapolis, eine Hochburg der politischen Linken, kommt mit vergleichsweise mageren 8,5 Prozent auf Platz drei.

Es ist mittags, halb zwei, und einer der zwölf Apostel der Mormonenkirche hat sich bereit erklärt, ein Interview zu geben. Er ist Deutscher, wie der Pressesprecher erklärt, der erste Deutsche im Kreis der Apostel, und er müsste es eigentlich wissen, warum die Menschen hier so spendenbewusst sind. Wenn man seinen Namen erwähnt, dann schrecken die Schwestern auf dem Tempelplatz ehrfürchtig zurück. „Dieter Uchtdorf“, sagen sie dann, „ich kann es nicht fassen.“

Fliegender Frührentner aus Seeheim
Vor ein paar Monaten noch war er einer der „Siebziger“, eine Art Regionalfürst, aber dann wurde er plötzlich in das höchste Gremium der Kirche berufen, weil jemand aus dem „Rat der zwölf Apostel“ gestorben war. Dort sitzt er nun auf Lebenszeit und wird möglicherweise einmal zum Propheten aufrücken, zum alleinigen Oberhaupt der Kirche Mormons.

„Man denkt nicht darüber nach, ob man diese Berufung ablehnen kann“, sagt Uchtdorf zu seinem neuen Job. „Diese Frage kommt gar nicht erst auf.“
Da sitzt er nun, dieser Mann, 62 Jahre alt, Frührentner aus Seeheim bei Darmstadt. Er trägt Anzug und Schlips, und er sieht prächtig aus. Er war zuletzt Chefpilot der Lufthansa, einer von denen, wie er sagt, die bis zum letzten Tag „aktiv die 747 geflogen“ haben.

Er hat Verhandlungen geführt, ausgebildet und Mitarbeiter betreut. „Ich war für 15.000 Piloten und Flugbegleiter verantwortlich“, sagt er. Nun managt er seine Kirche, die dafür bekannt ist, dass sie ehemalige und aktive Manager für sich arbeiten lässt. J.W. Marriott Jr., der Chef der Hotelkette Marriott International, ist Mormone, oder Nolan Archibald, der Chief Executive Officer von Black & Decker.

"Warum ich?"
Die Kirche ist für sie noch einmal eine neue Herausforderung. „Man kommt sich plötzlich so klein vor“, sagt Uchtdorf. „Man fühlt sich unvorbereitet. Warum ich? Gott hat doch gesagt, die Armen und Schwachen sollen meine Arbeit verrichten.“

Die Kirche wächst. Mehr als elf Millionen Mormonen gibt es inzwischen weltweit, vor allem in den Schwellenländern Lateinamerikas steigt die Mitgliederzahl rasant an.

Es ist eine Religion, die wirtschaftlichen Erfolg honoriert, und in Utah, wo 70 Prozent der Menschen Mormonen sind, sinkt die Arbeitslosigkeit und der Staatshaushalt steht mit mehreren Millionen Dollar im Plus.

In einer Rangliste des Magazins Forbes der stärksten Wirtschaftsstädte landete Salt Lake City auf Platz drei hinter den High-Tech-Boomstädten Austin und Las Vegas. Überall spürt man das strenge Arbeitsethos.
Weil Mormonen nicht rauchen, keinen Alkohol und keinen Kaffee trinken und keine Bars besuchen, gibt es kein nennenswertes Nachtleben in der Stadt. Bars verlangen Mitgliedsgebühren, Kellner beklagen, dass sie Bier mit reduziertem Alkoholgehalt ausschenken müssen, und im Hotel muss man neben dem Einverständnis hinsichtlich des Zimmerpreises auch eine Nichtrauchererklärung unterzeichnen.

Rechtfertigungsdruck
Sicherheit haben die Mormonen niemals gehabt. Auf sich allein gestellt sein, sich verteidigen müssen, das haben die Menschen von Beginn an gelernt, als sie 1847 von Illinois in das Tal des Salzsees flohen. Uchtdorf sagt, er selbst sei in seinem Leben gleich zweimal geflohen, einmal kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dann als die Mauer gebaut wurde. „Wir haben zweimal bei null angefangen“ sagt er.

Heute sind die Mormonen nicht mehr auf der Flucht, aber er bewundere die jungen Leute dafür, dass sie für ihren Glauben keinen leichten Weg gehen und sich manchmal schräg ansehen lassen – wegen des nicht ganz ausgerotteten Vorurteils, die Mormonen frönten der Vielweiberei.

„Ich bewundere immer die jungen Menschen, die zur Mormonenkirche stehen, weil sie sich ständig rechtfertigen müssen“, sagt Uchtdorf. Nach der Schule, wenn sie Missionare werden, zahlen sie 400 Dollar pro Monat dafür, dass sie eineinhalb Jahre für die Kirche arbeiten dürfen. Sie organisieren das Genealogie-Archiv, sie produzieren Konserven für die Armen und arbeiten als „Botschafter ewiger Wahrheit“.

Heute ist die Mormonenkirche reich, und Gordon Hickley, der lebende Prophet, weist gerne darauf hin, dass die Kirche als Wirtschaftsunternehmen in der Fortune-500-Liste der größten Unternehmen rangieren würde.

Fünf Milliarden Spenden — sechs Milliarden Beteiligungen
Jedes Jahr nimmt die Kirche etwa fünf Milliarden Dollar Spenden ein, eine verlässliche Einnahmequelle, weil es das Gebot des „Zehnten“ gibt: Wer würdig sein will, in den Tempel zu gehen, muss zehn Prozent seines Einkommens an die Kirche abgeben.

Das Unternehmens-Beteiligungsvermögen der Mormonenkirche wird auf sechs Milliarden Dollar geschätzt, das Immobilienvermögen auf weitere 24 Milliarden Dollar. 107 Konservenfabriken hat die Kirche in der ganzen Welt, sie hat eine eigene Marke, die Deseret Industries, sie produziert Nudeln, Saucen und Brot, führt Landwirtschaftsbetriebe, Lebensversicherungen, Krankenhäuser und Textilfabriken.

Soweit wie möglich versucht sie autark zu sein, ohne dabei aber den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit zu verletzten. Zuletzt wurde die Thunfischproduktion ausgelagert. Es war billiger, wenn andere produzierten.

Leistung ist für die Mormonen der Schlüssel zur Großzügigkeit, denn helfen kann nur, wer sich vorher selbst geholfen hat. James Goodrich, der Sozialmanager der Kirche, steht auf dem „Wohlfahrtsplatz“ am Rande der Stadt, dem Hauptquartier des kircheneigenen Sozialsystems. Hier befindet sich der Supermarkt, der sich das „Geschäft des Bischofs“ nennt, und von dem es 113 Filialen in der Welt gibt.

Wer Lebensmittel und Kleider braucht, lässt sich bei seinem Bischof eine Bedarfsliste unterzeichnen und kann dann hier eine Zwei-Wochen-Ration Konserven und im Zweifel auch „den Kleideraspekt“ befriedigt bekommen. „Es kostet nichts“, sagt Goodrich, der seit kurzem den Bischofs-Supermarkt leitet. „Wir wollen nur, dass jeder nach seinen Fähigkeiten dafür Arbeit ableistet.“ Die Kirche betreibt hier auch ein eigenes Arbeitsamt.

„Wir wollen die Leute zum Arbeiten erziehen“, sagt Goodrich. Staatsgeld wollen sie nicht, sie wollen autonom bleiben, denn bei den Mormonen gelten andere Standards. „Wir wollen uns nicht nach denen des Staates richten.

Manchmal brauchen nämlich auch Reiche Hilfe, nicht nur die Armen.“
Fortschritt haben die Mormonen nie gescheut, jedenfalls nicht, was moderne Kommunikationstechniken betrifft.

Wahre Erben
Im Besucherzentrum auf dem Tempelplatz steht Jesus Christus, überlebensgroß und in Marmor gehauen, und sobald man auf einem der Besuchersofas sitzt, beginnt es aus den Lautsprechern zu dröhnen: „Ich bin Jesus Christus. Ich bin auf die Erde gekommen, um den Willen meines Vaters zu tun. Glaubt auch an mich.“

Mormonen sehen sich als die wahren Erben der Kirche der Apostelzeit an. Alle anderen Konfessionen sind für sie sündig geworden. Die Mormonen glauben an eine „Restauration“ der wahren Kirche Jesu Christi am Ende der Zeiten. Unten im Keller laufen darüber mehrere Info-Filme. Man sieht dort den Sohn Mormons, des letzten Propheten vor der Restauration, wie er das Buch Mormons vergräbt, den „Kompass“ der Mormonen.

Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Die Lichterketten auf dem Tempelplatz leuchten wieder in Blau, in Purpur, Grün, Orange und Gelb. Die Presseleute haben Broschüren zum Mitnehmen zusammengestellt, Auszüge aus dem Schriftgut der Kirche, das sich manchmal liest wie der Warnhinweis auf Zigarettenpackungen.

„Wir weisen warnend darauf hin“, heißt es etwa in einem Merkblatt zur Familie, „dass jemand, der seinen Ehepartner oder seine Kinder misshandelt und seinen familiären Verpflichtungen nicht nachkommt, eines Tages vor Gott Rechenschaft ablegen muss.“

Vor dem Parkplatz sitzt ein Mann in einem Wachhäuschen. Wo denn hier noch eine Kneipe offen hat, eine Bar? Der Mann lächelt freundlich, holt einen Plan und zeigt auf eine Stelle, die außerhalb der Stadt liegt. „Hier“, sagt er, „da können Sie hingehen“. Und dann sagt er noch, nur zur Sicherheit: „Ich weiß nicht, wie es da ist. Ich war noch nie da.“

(SZ vom 24.12.2004)

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