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der Beitrag:
Verfasser: ---007---Abc
Datum: Dienstag, den 2. November 2004, um 16:25 Uhr
Betrifft: Der Placebo-Effekt

Lieber Lennard,

auch wenn ich gleich Deiner Frage nachkommen möchte, so frage ich mich natürlich, was hindert Dich daran sich inhaltlich mit meinen Aussagen und Thesen auseinanderzusetzen, auch ohne dass Du eine Schublade hast, in die Du mich stecken kannst. Ich habe in meinem Leben bisher gelernt, dass man zu jedem Zeitpunkt und von jedem Menschen (auch einem vermeindlichen Gegner) etwas lernen kann, egal woher der kommen mag. Wer schubladenbedingt filtert, verpasst wertvolle Hinweise.

Nun zu meiner Person und der kritischen Distanz:

Aufgrund der vielen Fragen von Untersuchern und Mitgliedern, die sich ja auch immer mal mit "Anti-Mormonen" Infos konfontiert sahen, habe ich in den letzten 2 Jahren versucht, zunächst nachzuvollziehen, worin diese aktuellen Informationen bestehen. Ich hatte schon 1985 auf meiner Mission die Erfahrung von der Existens des Tanner-Buches "Mormonism - Shadow of Reality", was ich aber während der Mission nicht intellektuell verarbeitet, sondern in Ermanglung von Zeit und wegen der konkurrierenden Botschaft nicht gelesen, sondern mit Glauben und Fasten auf einer höheren Ebene verdampft habe. Letztlich blieben immer ein paar Zweifel und nicht geklärte Dinge (Buch Abraham etc.), die ich wie jeder "gute Mormone" in ein Regal stellte, um zu hoffen, dass eines Tages klärende Antworten auftauchen würden, um bis dahin wie bisher weiterzumachen. In den letzten Jahren waren mir die Antworten auf theologische Details auch nicht mehr so wichtig, weil ich fühlte und spürte, dass das Umsetzen und Leben der Grundsätze des Evangeliums einerseits schon Herausforderung genug ist und andererseits die Früchte davon so selbstbestätigend sind, dass es sich lohnt, danach zu leben (Friede, Freude), selbst wenn es kein Leben nach dem Tod geben würde. In diese Zeit fiel dann auch die Entscheidung, der selbstauferlegten Zensur im Kopf aufzugeben, dass es schädlich sei und eine satanische Versuchung darstelle, sich mit Informationsmaterial zu beschäftigen, was sich kritisch mit der Kirchengeschichte auseinandersetzt.
Gemäß einer Aussage von Ruben J. Clark ("If we have the truth, it cannot be harmed; if we don’t have the truth it ought to be harmed") entschloss ich mich den Schutzwall nicht mehr aufrecht zuhalten und las ungezügelt alle Internetseiten (insbesondere auch die englischsprachigen), die sich kritisch-differenziert mit der Kirchengeschichte beschäftigen, um "alles zu prüfen und das Gute zu behalten".
Um es kurz zu machen: nach vielem Lesen und vielen Gesprächen mit meiner Frau (mit wem sonst kann man darüber innerhalb der Kirche offen darüber sprechen ohne den Tatbestand der Abtrünnigkeit zu erfüllen) bin ich z. Z. in einem Status, dass ich für mich feststelle, dass die Kirche für mich immer noch die beste ist, weil sie mir hilft und mich erinnert, an mir zu arbeiten, mich um aufrichtige Liebe zu bemühen, anderen zu dienen und mein Herz zu Gott zu wenden. Das was für mich früher nie diskutierbar war, dass die Kirche die (objektiv) einzig wahre Kirche auf dem ganzen Erdboden ist, an der der Herr Wohlgefallen hat, steht für mich nicht mehr so da. Aber es ist die beste Kirche für mich und meine Familie. Wir gehe jeden Sonntag hin, z. Z. bin ich nur Heimlehrer - mal sehen, wozu sich der Pfahlpräsident/Bischof trauen mich zu berufen, da sie Bescheid wissen -, und nehmen am Gemeindeleben teil. Bei den missionarischen Aktivitäten halte ich mich etwas stärker zurück.

Der Anspruch der Kirche ist aus meiner Sicht nicht mehr haltbar, aber für mich steht eben weniger eine von mir zu formulierende Kritik im Vordergrund als die Frage, was mich weiterbringt auf einer sprituellen Suche nach Wahrheit, die bei mir lange vor der Begegnung mit der Kirche begonnen hat. Ich habe halt nicht nur/so schlechte Erfahrungen mit der Kirche gemacht. Sie war für viele Jahre ein selbstgewähltes Korsett, das nicht nur eingeengt, sondern auch gestützt hat (wofür ein Korsett ja auch nutzen kann, wenn man es sich freiwillig anlegt). Jetzt ist es mir vielleicht zu eng geworden, aber noch werfe ich es nicht weg.

Ferner ist ist für mich zu unterscheiden zwischen der intellektuellen Ebene, der intuitiven Ebene und der empirischen Ebene, mit der ich zu Ergebnissen kommen kann. Letztere zeigt mir immer noch an, dass der überwiegende Teil des praktischen Evangeliumslebens (Gebote, Programme etc.) mir und meiner Familie gut tut und sich selbst beweist, wobei ich dort Abstriche mache, wo es das nicht tut und auch auf den beiden anderen Ebenen kein Support ist. Auf der intuitiven Ebene spüre ich immer weider mal (noch?) den Geist Gottes auch in Kirchenversammlungen oder im Gebet und er motiviert mich über den "natürlichen" Menschen hinauszuwachsen. Allerdings versuche ich nicht jede Kundgebung des Geistes als Bestätigung für etwas hinzubiegen. Auf der intellektuellen Ebene gab es den eigentlichen Einbruch, die nicht an einem Thema hängen, sondern an der Fülle der historischen Ungereimtheiten und Aussetzer. Besonders abturnende "Zugpferde" mögen da z. B. die sehr holprige Polygamieentwicklung einerseits von Joseph Smith selbst (vor 1844 gemäß Berichte anderer Frauen) andererseits nach der amtl. Erklärung Nr.1 (siehe Forschungsarbeit Dr.Michael Quinn); die Entstehung und Änderungen des Endowments (Law of Vengance, permanente Überarbeitungen, Vergleich Freimauer); die sogenannten Sondergruppierungen und Bünde (Council of Fifty, Danites); Änderungen LuB; Entwicklung des Priestertums etc, etc. sein. Wenn Du da eine vollständige Auflistung aller Themengebiete haben willst, kenne ich eine umfassende Internetseite ....

Vielleicht habe ich mit dieser Biografie aus Deiner Sicht noch keine ausreichende kritische Distanz (wobei ich sicher bin, das alle meine Familienmitglieder und Freunde, von denen fast alle deutlich außerhalb der Kirche angesiedelt sind, etwas anderes attestieren würden, wenn Du sie über mich befragen würdest), aber vielleicht mußt Du und auch ein paar andere noch erkennen, dass die Kirche nicht nur Menschen schädigt, sondern in einigen?/mehreren?/vielen? (quantitativ würde ich mich zu keiner Aussage hinreißenlassen) durchaus positive Wirkungen auf die charakterliche und soziale Entwicklung der Mernschen und ihrer Beziehungen hatte und hat. Das leite ich nicht aus einer Theorie ab, sondern aus biographischen Fakten in meinem Leben und dem einiger anderer, in das ich Einblick habe.

Und - um eine Metapher zu benutzen - wenn sich für mich nun herausstellt - dass das Medikament, dass ich über 20 Jahre zu mir genommen hatte, vielleicht gar keine echten Wirkstoffe enthielt, also ein Placebo war, aber dennoch positiv gewirkt und mitunter geheilt hat, dann empfinde ich insofern nicht das Bedürfnis den Hersteller des Produktes automatisch zu verdammen. Schon manche Heilung wurde durch Placebos bewirkt.
Ich kann mich ja neu positionieren und andere Wege gehen, da ich (glaube) immer weitgehend selbstbestimmt war (gewesen/zu sein).

Was den Placebo (die Lehre der Kirche) und mögliche, kaum messbare Wirkstoffkonzentrationen angeht (wer sich mit Homöopathie auskennt, weiß, dass manche Wirkungen und Substanzen kaum noch wissenschaftlich messbar sind), so schaue ich halt mehr auf die Wirkungen als auf die Messergebnisse. Was den Hersteller (die Kirche) angeht, so kann ich dessen Intention nur schwierig beurteilen: Weiß er, dass es keine Wirkstoffe gibt und will er nur Geld machen oder ist er selber nur den positiven Wirkungen seines Produktes gefolgt, in der Hoffnung und Annahme etwas Gutes zu verbreiten ? Das eine wäre mafiös/teuflisch, das andere wohlwollend/unwissentlich. Zu einem Endurteil bin ich noch nicht gekommen, da ich - nicht erst seit der Mitgliedschaft in dieser Kirche weiß - dass es noch andere Ebenen der Erkenntnis gibt als nur die Verstandesebene, und auf dieser für mich noch nicht alles geklärt ist.

Ich kann aber jeden Placebo-Geschädigten verstehen, der Zetter und Mordio schreit, weil er keine positiven Wirkungen, sondern nur negative Nebenwirkungen verspürte, und für den somit wissenschaftlich nachweisbar ein Betrug vorliegt, weil nicht drinn war, was drauf stand. Er muss sich um Zeit, Einsatz und Geld geprellt fühlen.

Aber wie kann es für ihn weitergehen.

In meiner ersten Loslösung von dem bisher als fest geglaubten Glaubensgerüst habe ich vieles und alles in Frage gestellt - auch den Glauben an einen Gott. Ich bin geschwommen, aber in keinen Strudel gekommen, da ich wusste, dass sich bestimmte Werte und Verhaltensregeln in sich als gut und nützlich bewiesen hatten und nicht zu Disposition standen. Was dabei an erster Stelle steht ist die Liebe (nicht nur die zum Partner). Diese Liebe, die nicht institutionell oder theologisch gebunden ist, bildet die relevante Basis für ein glückliches und erfülltes Leben hier und - wenn ich all die Nahtodesberichte zusammenfasse, die ich bisher gelesen habe, auch füs das Jenseits.

Wenn mit der Erkenntnis des einen oder anderen hier in diesem Forum ein bißchen mehr Liebe (vielleicht auch gegenüber den Mitgliedern der Kirche) gepaart wäre, dann wäre die Menschheit wiederum ein Stück weiter.(Ich denke an Ghandi, der einem hinduistischen Glaubensbruder, der in Religionshass einen Moslem getötet hatte, als Therapie und Sühne gleichermaßen vorschlug, dessen überlebenden Sohn aufzuziehen und zwar streng im moslemischen Glauben.)
Glaube ohne Liebe macht fanatisch. Verstand ohne Liebe macht hart.

Eine Fortschritt für die Menschheit wäre natürlich auch, wenn die Kirche in Ihrem Umgang mit Ihrer Geschichte offener werden würde. Ich bin sicher, dass das eines Tages in irgendeiner Form kommen wird, weil eben (dankenswerter Weise) aufgrund dieser und anderer Internetseiten die Kirche den Fragen einer jüngeren und mehr hinrterfragenden Generation sich nicht wird verschließen können.

Ich hoffe, dass ich Deine Frage somit erschöpfend beantwortet habe.

Gruss Frank

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