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Verfasser: Gunar
Datum: Montag, den 20. Oktober 2003, um 0:21 Uhr
Betrifft: Welt: Buch der Woche

Die Welt
18. Oktober 2003

Die Welt könnte untergehen
Mord, Inzest, Kinderschändung - Jon Krakauer schreibt über fundamentalistische Mormonen in den USA. das Buch der Woche

von Wieland Freund

... Wer verstehen will, warum die Welt, von Arizona, Utah oder Illinois aus gesehen, eine andere ist als aus dem Blickwinkel eines Niedersachsen oder Bretonen, muss also die Religion auf der Rechnung haben - so wie Jon Krakauer in seiner umfangreichen Reportage "Mord im Auftrag Gottes".

Der Journalist Krakauer hat sich von jeher für das Extreme interessiert. In seinem besten Buch "In die Wildnis" ist er dem Zivilisationsflüchtling Chris McCandless ins frostige Eden Alaskas gefolgt, sein Bestseller "In eisige Höhen" beschrieb die große Katastrophe des Jahres 1996 auf dem Passionsweg den Mount Everest hinauf. In "Mord im Auftrag Gottes" nun geht es wieder um ein weites Land - und seine religiös motivierten Extremisten. Krakauers jüngste Reportage erzählt die Geschichte der Mormonen, die einst den tiefen Mittelwesten der USA besiedelten und heute durch zahlreiche fundamentalistische Abspaltungen erschüttert werden.

Die Mormonen sind oft als prototypische Amerikaner beschrieben worden. Jene "city upon the hill", von der amerikanische Politiker von John Winthrop bis Ronald Reagan gesprochen haben, haben sie scheinbar in Salt Lake City und Provo erstehen lassen, und der so genannte Mormon Trail, der lange Weg der Glaubensgemeinschaft bis in die Wildnis von Utah, ist eine der Meistererzählungen in der dickleibigen Anthologie vom amerikanischen Pioniergeist.

Ja, die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzen Tage" ist eine uramerikanische Erfindung, weil sie sich nicht zuletzt auf die Kommunikation des bedeutsamen Einzelnen mit seinem Gott gründet. Richtig ist aber auch, was Wallace Stegner als fundamentale Differenz zwischen Amerika und seinen Mormonen festgehalten hat: Die Heiligen der Letzten Tage, befand er, "träumten ihren Traum als Gruppe, nicht als Einzelne". Die Indianer machten folgerichtig einen Unterschied zwischen weiß und weiß: "Mormonee" nannten sie die Heiligen, alle anderen Amerikaner hießen "Mericats".

Krakauer nimmt in seinem Buch gleich zwei Wege. Dem einen folgend, erzählt er die Geschichte eines grausamen Mordes an einer jungen Mutter und ihrem Baby durch fundamentalistische Mormonen; der zweite Weg führt ihn weit zurück bis in die Anfänge des Mormonentums. "Mord im Auftrag Gottes" will Religions- und Kriminalgeschichte zugleich sein. Das mag in der Natur der Mormonen-Sekte oder gar der Mehrzahl aller Religionen liegen, aber auch dem Bedürfnis des Autors entspringen, eine Schauergeschichte zu erzählen. Krakauer geht ins blutige Detail, wo er kann, und macht zuweilen fragwürdige Zugeständnisse an das, was er für den Publikumsgeschmack hält.

Der grausame Mord an Brenda Wright Lafferty und ihrer Tochter Erica Lane, der am 24. Juli 1984 in American Fork, Utah County, verübt wurde, ist der Ausgangspunkt von Krakauers Recherche. Als Täter stehen heute die Brüder Ron und Dan Lafferty zweifelsfrei fest. Beide gehörten einer winzigen Gruppierung fundamentalistischer Mormonen an und hatten begonnen, unter anderem die Vielehe zu predigen, wovon sich auch ihr jüngerer Bruder, Allen Lafferty, Brendas Ehemann, hatte beeindrucken lassen. Brenda war dem erfolgreich entgegengetreten, und Ron hatte sie bereits öffentlich dafür verantwortlich gemacht, dass seine Frau ihn verlassen hatte.

Rons bürgerliche Existenz war in seinem religiösen Furor zusammengebrochen. Er hatte seinen gesamten Besitz und seine große Familie verloren und war von der offiziellen Mormonenkirche HLT exkommuniziert worden. Die offensichtlich in seinem Namen von Dan Lafferty verübte Bluttat erschien also auf den ersten Blick als Amoklauf eines Gescheiterten. Tatsächlich hatten amerikanische Gerichte bis in den November 2002 zu klären, ob Ron Lafferty unter einer "wahnhaften Störung" litt oder die Tat im Sinne einer wie auch immer gearteten inneren Logik rational plante und ausführen ließ. Krakauers Buch ist ein nicht zuletzt historischer Abriss dieser inneren Logik des Ron Lafferty und führt auf einem langen Weg zu der Erkenntnis, dass der Doppelmord von American Fork sich logisch auf die Anfänge des Mormonentums im 19. Jahrhundert zurückführen lässt.

Die Geschichte des Mormonentums beginnt mit einer seltsamen Geschichte und einem grotesken Diktat. 1823 war dem Wahrsager Joseph Smith jr. aus Vermont ein Engel namens Moroni erschienen, der ihm eine auf massive Goldplatten geprägte heilige Schrift in Aussicht stellte. Nach einigem Hin und Her gelangte Smith in den Besitz dieser später wieder verschwundenen Tafeln, deren "reformiertes Ägyptisch" er mit Hilfe einer göttlichen Brille und eines Zaubersteins zu lesen verstand. Eine amerikanische Übersetzung dieser heiligen Schrift diktierte Smith in den Jahren 1828 und 1829 als "Das Buch Mormon", wobei er sein Gesicht in einem Hut vergrub. Im April 1830 dann wurde die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage offiziell gegründet. Ihre Mitglieder zählen - dank eifriger Missionsarbeit weltweit und schier unglaublicher Geburtenraten - heute Millionen. Ein amerikanischer Soziologe glaubte vor 20 Jahren an 265 Millionen für das Jahr 2080 und korrigierte seine Voraussage später nach oben. Harold Bloom ist der Ansicht, dass die USA in einem halben Jahrhundert "ohne die Zusammenarbeit mit den Mormonen" nicht regierbar sein dürften. Das mussnicht den baldigen Weltuntergang bedeuten, an den die Mormonen fest glauben. Die HLT-Kirche bewegt sich, so Krakauer, "seit fast einem Jahrhundert langsam, aber unaufhörlich auf die langweilige Normalität der amerikanischen Mittelschicht zu". Und obwohl das Mormonentum zweifelsohne ein schwieriges sexistisches, rassistisches, gewalttätiges und homophobes Erbe angetreten hat, hat man bereits im 19. Jahrhundert von der von Smith ohnehin hinter vorgehaltener Hand gepredigten Vielehe Abstand genommen und weiht seit über 20 Jahren auch schwarze Priester.

Gerade den Pragmatismus der HLT-Oberen aber und die willkommene Amerikanisierung der Sekte empfindet eine Minderheit fundamentalistischer Mormonen als Erstarrung und kehrt auf der Suche nach neuer Spiritualität zu den alten Quellen zurück. Glaubensgründer Smith hatte 1843 die Polygamie als "göttliches Gebot" in seine Glaubenslehre aufgenommen, die bis heute von fundamentalistischen (und exkommunizierten) Mormonen praktiziert wird. Krakauer ist nach Colorado City in den gottverlassenen, aber extrem religiösen Arizona Strip gereist, wo eine mormonische Abspaltung unter dem Namen "United Effort Plan" (UEP) die illegale Vielehe praktiziert. Es ist eine der großen Leistungen Krakauers, die Schrecknisse der Vielehe dort nie zu verharmlosen. Denn so, wie sie von den fundamentalistischen Mormonen praktiziert wird, ist sie gleichbedeutend mit Kinderschändung, sexueller Gewalt und Inzest. Colorado City erscheint als göttlich begründeter Sündenpfuhl, dessen Ideologie über Umwege auch die Laffertys erreichte.

Ron Lafferty bezog sich, als er seine Frau zu demütigen begann, ebenso auf Lehrsätze des Joseph Smith wie zu jenm Zeitpunkt, als er den Mord an seiner Schwägerin und seiner Nichte plante. Im frühen Mormonentum gründete sich der Glaube auf eine Folge göttlicher Offenbarungen, die theoretisch jeder Gläubige empfangen konnte. Rons Offenbarung lautete: "Es ist Mein Wille und Gebot, dass du die folgenden Menschen beseitigst, auf dass Mein Werk fürdergehe ... Zuerst deines Bruders Weib Brenda und ihr Baby ..." Auch die Blutsühne ist in den Schriften Josephs Smiths verankert. Und nicht nur da: Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird Ron Lafferty im Laufe des Jahres 2004, 20 Jahre nach dem Doppelmord, in Utah hingerichtet werden.

Natürlich wartet man in Krakauers Buch auf einen Subtext. Am 11. September 2001 recherchierte Krakauer noch, und die Anschläge auf New York und Washington mögen seinem Buch tatsächlich eine neue Richtung gegeben haben. Doch Krakauer verfährt geschickt.

Weder leistet er denen Vorschub, die den Amerikanern nur allzu gern raten möchten, vor der eigenen Tür zu kehren, noch abstrahiert er über die Maßen. Religiöser Fundamentalismus fußt auf sehr unterschiedlichen Traditionen, und das Mormonentum zu kennen, heißt keineswegs, den Islam zu verstehen. Dennoch ist - vor mehr als 100 Jahren - auf Parallelen im aggressiven theokratischen Anspruch in der Geschichte beider Religionen hingewiesen worden. Im Falle der fundamentalistischen Mormonen heute nicht zu Unrecht. Über die Attentäter vom 11. September sagte der zu lebenslanger Haft verurteilte Dan Lafferty: "Sie waren bereit, im Wesentlichen dasselbe zu tun wie ich. Ich sehe die Parallele. Aber der Unterschied zwischen mir und diesen Kerlen besteht darin, dass sie einem falschen Propheten folgten und ich nicht."

Mord im Auftrag Gottes. Eine Reportage über religiösen Fundamentalismus. Von Jon Krakauer. A. d. Amerik. v. Thomas Gunkel. Piper, München. 447 S., 22,90 EUR. Am 24. Juli 1984 wurden in American Fork, Utah County, Brenda Wright Lafferty und ihre kleine Tochter Erica grausam ermordet. Die Täter: fundamentalistische Mormonen. Jon Krakauer fahndet in seinem neuen Buch nach ihren Motiven und führt den Leser dabei zurück in die Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und ins Herz der Finsternis fundamentalistischer Mormonen heute.

Quelle

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