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Verfasser: Elvira
Datum: Montag, den 15. September 2003, um 21:44 Uhr
Betrifft: Der lange Arm des Mormonismus

Nach vielen Jahren des totalen Schweigens, habe ich am Wochenende, meine alte Abiturklasse getroffen. Und damit hat mich ein Teil meiner Vergangenheit wieder eingeholt, nämliche meine mormonische Vergangenheit.

Gleich zu Beginn stürmte  eine ehemalige Mitschülerin auf mich zu, ich erkannte sie nicht gleich wieder denn sie hatte sich sehr verändert. Nach der Begrüßung war das erste was sie mich fragte: "Bist Du noch bei den Mormonen?“
Also auf diese Frage war ich ganz und gar nicht gefasst gewesen und brachte  erst mal nur ein: „Nein schon lange nicht mehr.“ heraus.

Im Folgenden entspann sich ein stundenlanges Gespräch und ich erfuhr warum sie mir gerade diese Frage gestellt hatte und warum sie sich äußerlich so sehr verändert hatte.
Damals in der Schule hatten wir uns prima verstanden, ich die Mormonin und sie, in einer sehr strengen Pfingstgemeinde aufgewachsen und ebenfalls von deren Werten und absoluter Einmaligkeit überzeugt. Dazu gehörten bei ihr, das ausschließliche Tragen von Röcken und Kleidern, selbst bei Wanderungen waren Hosen nicht erlaubt. Dazu gehörte langes, zusammengebundenes Haar (auf keinen Fall offen getragen) und das Tragen von einem Kopftuch in den Versammlungen. Alkohol- und Genussmittelkonsum waren ebenso verpönt, wie tanzen, Kosmetik und alles, was irgendwie nach Luxus oder Annehmlichkeit aussah. Nun glaubte ja jede von uns, der einzig wahren Kirche anzugehören und hatten ähnliche Wertvorstellungen. Aber verstanden haben wir uns wohl eher, weil wir so anders waren, als der Rest der Klasse.

Ihre Religion sah für Frauen keine Ausbildung vor, sondern ein Leben als Hausfrau und Mutter vieler Kinder. Also heiratete sie sehr jung, ohne Ausbildung einen Mann ebenfalls sehr jung und ohne Ausbildung und sie bekamen eine ganze Schar von Kindern.
Und dann erwachten sie aus diesem Traum und begannen die Religion, die ihnen dieses Leben verordnet hatte zu hinterfragen. Ihr Ablösungsprozess hatte ganz ähnliche Stufen wie meiner, aber er dauerte zehn Jahre und fünf Kinder und ein Leben in Entbehrung. Als der Ausstieg vollständig vollzogen war, begannen sie nachzuholen, was sie versäumt hatten, Studium und Beruf, ein Leben auf eigenen Beinen und ohne die alles kontrollierende Gemeinschaft. Zum ersten Mal ein Kino zu besuchen oder sich einen Kaffee in einem Lokal zu gönnen, war für sie so aufregend wie für ein Kind der Rummelplatz.Es begann aber auch  ein Leben mit einer im Haushalt mitlebenden Großmutter, die diesen Schritt bis heute nicht verstehen kann, mit der nicht einmal darüber geredet werden kann.

Entstanden  ist auf diesem Weg die Erkenntnis, dass es so etwas wie eine einzig wahre Kirche, einen einzigen, absolut richtigen Lebensweg, verbindlich für jeden Menschen einfach nicht gibt und ein kompletter Rückzug von Christentum und seinen Ansprüchen an Erlösung.

Natürlich hatte man ihnen das prophezeit, was man Mormonen  Aussteigern auch sagt, dass sie ohne die Kirche verloren wären, dass Satan sich ihrer bemächtigen würde, dass ihr Weg schnurstracks in die Hölle führen würde. Aber es gab kein Zurück und es ist nichts von den Drohungen eingetreten. Ganz im Gegenteil Sie konnten ein neues, freies und selbstbestimmtes Leben führen und dank der nachgeholten Ausbildung, von da an auch ein finanziell sorgenfreies Leben. Ihre Ehe ist nicht in die Brüche gegangen und ihre Kinder  sind gesund, munter und aufgeweckt.
Und dass es ihr gut geht, das konnte ich sehen, denn in ihrem Blick  und in ihrem Gesicht, war nichts mehr von der ehemaligen  Verbissenheit und Strenge, in ihrer Stimme nichts mehr von der Ãœberheblichkeit und Unerbittlichkeit mit denen sie Ihre Werte zu vertreten pflegte. Sie ist eine selbstbewusste, fröhliche und lebenslustige Frau, natürlich mit Kurzhaarschnitt und Hosen.;-)

Mich hat das mächtig beeindruckt und als wir uns unsere Lebensgeschichten vom „Abfall“ erzählt hatten, waren wir erstaunt, wie sehr sie sich glichen, besonders die Gedanken von Zweifel, die Unsicherheit, das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die ersten zaghaften Schritte ohne die mächtige Organisation im Rücken. So hatte ich bei den ersten Schritten mein Garment abgelegt und sie die erste Hose ihres Lebens gekauft und angezogen und sich das lange Haar abschneiden lasse. Dankbar sind wir beide letztendlich, dass wir es geschafft haben.

Natürlich wollte ich auch mit allen anderen Ehemaligen reden und dabei konnte ich erfahren, wie sehr sie mich alle als Mormonin in Erinnerung hatten und wahr genommen hatten. Fast entsetzt wurde ich gefragt, wieso ich Wein trinke,  Mormonen dürften das doch nicht, ich hätte ja früher noch nicht mal einen Kaffee mit  getrunken. Auch daraus wurde ein Gespräch und ich erfuhr, dass ich damals auf die anderen als totale, erzkonservative, mormonische Hardlinerin gewirkt habe. Das war immerhin so abschreckend gewesen, dass keine von diesen Personen, je einem Missionar die Tür aufgemacht hat.;-)
Mein „Abfall“ von der Kirche hat mir dann noch viele Fragen beschert, ich hätte nicht vermutet, dass das so eine Sensation sein würde und konnte daran rückwirkend ermessen, dass sie mich in erster Linie als Mormonin wahr genommen hatten, weil es das war, was ich von mir gezeigt hatte.

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