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Verfasser: Nyu
Datum: Donnerstag, den 11. September 2003, um 14:26 Uhr
Betrifft: Ein Sohn und sein sterbender Vater

Dies ist eine Übersetzung des Zeugnisses eines Teilnehmers eines amerikanischen Forums über seine Beziehung zu seinem sterbenden treu-glaubenden HLT-Vater:

"In der letzten Woche erhielt ich einen Anruf von meinem Vater. Er teilte mir mit, dass er gerade herausgefunden habe, dass er tötlichen Krebs hat und dass ihm nur noch wenige Monate bleiben würden. Er ist schon über 70 Jahre alt und hat sein Schicksal vielleicht besser angenommen als so Mancher.
Ich kaufte sofort Flugtickets nach Salt Lake City und verbrachte einige Tage mit meiner Familie bei meinen Eltern. Ich blickte diesem Familientreffen aber mit durchaus gemischten Gefühlen entgegen, wärend ich im Flugzeug über das ganze Land flog. Mein Vater und ich hatten schon zuvor darüber gesprochen, dass meine Familie und ich die Kirche verlassen hatten und wusste, dass er diese Entscheidung weder verstand noch ihr zustimmte. Auch wenn er damals die erste Ankündigung besser aufnahm als ich es mir vorgestellt hatte, sagte er mir über die Jahre fortwährend, dass es an der Zeit für mich sei, wieder in den Schoss der Kirche zurückzukehren. Generell ignoriere ich diese Bemerkungen einfach oder lenke von diesem Thema ab, indem ich anfange über etwas anderes zu sprechen.
Ich befinde mich jetzt in meinem 42. Jahr des strengen Einflusses seiner treu-gläubigen Erziehung und Beeinflussung und ich konnte mir einfach nur das Schlimmste für mein letztes Aug-in-Aug-Gespräch mit meinem Vater vorstellen. Ich beriet mich mit meiner Frau, was ich ihm sagen sollte, wenn er mir das Todesbettversprechen abverlangen sollte, dass ich zurück zur Kirche kommen solle. Ich wusste nicht, wie ich das durchstehen würde. Die Entscheidung, eine Welt anzunehmen, die grösser war als die, welche die mormonische Kirche bieten konnte, war das erste wirklich Ehrliche und Richtige, das ich in meinem Leben getan hatte. Ich wollte nicht lügen aber ich wollte auch nicht meinen Vater noch mehr verletzen als ich es bereits getan hatte.

Als mein fünfzehnjähriger Sohn und ich in die Auffahrt meiner Eltern einbogen, sagte ich, dass ich ihn liebe und dass ich nicht wisse, was uns gleich begegnen würde. Wir hatten eine tränenerfüllte halbe Stunde als wir uns mit meinen Eltern trafen, nachdem wir uns etwa ein halbes Jahr nicht gesehen hatten. Mein kleiner Papa (ich bin viel grösser als er) sah nicht so gut aus und ich spürte, wie ich emotional um Jahre abbaute. Ich wollte einfach nur noch meinen Vater umschliessen und ihn nicht mehr loslassen.
Wir sassen im Wohnzimmer und er erzählte seine Geschichte von seiner Krankheit und der Diagnose (Bitte gehen alle Männer im Forum doch sobald sie können und einen Termin bekommen zur Prostatakrebsvorsorgeuntersuchung, wenn sie das nicht bereits im letzten Jahr unternommen haben). Plötzlich blickte er mich an und teilte mir mit, dass ich mich lange genug von der "Wahrheit" entfernt hatte und dass es an der Zeit war, dass ich zurückkehren sollte. Ich ignorierte ihn einfach, weil ich meinte, dass es doch noch so viel mehr gäbe, worüber man sprechen müsse. Eine Weile später sagte er zu meiner Frau und mir, dass es an der Zeit sei, meine Kinder wieder zur Kirche zu bringen. Ich blickte ihm in die Augen und sagte ihm, dass ich wundervolle Kinder habe und dass ich mir nicht vorstellen könne, dass sich ihr Leben durch die Rückkehr zu irgendetwas irgendwie verbessern könne.
Er blickte mich nur an.
Einige Tage verstrichen. Die meiste Zeit verbrachte ich mit meinen Eltern, wir hatten ein Picknick mit ihnen und meinen Kindern und ich erfreute mich überwiegend der Gegenwart meines Vaters. Aber im Hintergrund waberte irgendwie immer eine Wolke der Anschuldigung und unausgesprochener Verstimmung, die nicht verziehen wollte.
Am Tag des Heimflugs verbrachte ich noch den Vormittag mit meinem Vater. Wir beide sassen einfach nur in einem Zimmer und weinten zusammen. Plötzlich nahm er meine Hand und sagte mir, dass er um Verzeihung dafür bäte, dass er nicht ein besserer Vater gewesen war. Ich sagte ihm, dass ich fand, dass er sein Bestes gegeben hatte und dass ich im Grossen und Ganzen keinen Grund hätte, mich zu beschweren.
Dann sagte er etwas, was mir den Atem nahm. Etwas, was ich mir nie vorgestellt hätte, dass ich es jemals von meinem Vater hören würde.
Er blickte mich an und sagte, dass er mich wirklich und vollständig liebt so wie ich bin. Ihm würde es aufrichtig leid tun, dass er es zuliess, dass irgendeine Organisation ihm suggerierte, dass er von seinen Kindern entteuscht sein sollte.
Ich war absolut erschüttert und weinte einfach, wärend ich mein Gesicht in seinem Schoss vergrub. Ich begriff plötzlich, dass ich endlich - zum Schluss - einen Vater hatte, der mich bedingungslos für einen guten und vollständigen Menschen hält, ungeachtet meiner Religionszugehörigkeit.

Ich war zutiefst erstaunt, wie viel meiner Vergangenheit mit meinem Vater durch diese Aussage von ihm einfach ausradiert werden konnte. Ich weiss jetzt, dass die Emotionen deshalb hochschlugen, weil er vor seinem herannahenden Tod eine Möglichkeit suchte, sich mit uns beiden zu versöhnen. Ich hätte es aber nie für möglich gehalten, dass der Vater, den ich kannte eine solche Sache jemals sagen würde.
Ich lächelte über beide Ohren als ich ging. Ich blickte auf meinen Sohn und sagte ihm, dass ich ihn vollständig liebe und dass ich stolz darauf bin, dass ich ihm das sagen kann wärend er noch 15 ist und nicht erst, wenn er 41 ist. Ich habe seitdem noch ein paar Mal mit meinem Vater über das Telefon gesprochen und das sind die ersten Gespräche, die ich in den letzten 4 oder 5 Jahren mit meinem Vater geführt habe, wo er nicht über meine Kirchenaktivität spricht.

Vor diesem Erlebnis konnte ich immer nur meinen Kopf schütteln und die vielen marionettenartigen Bemerkungen meines Vaters wiederholen, wenn das Gespräch auf ihn fiel.
Wenn ich jetzt an ihn denke, dann denke ich an einen der weisesten Menschen, die ich kenne. Er hatte kurz vor Schluss noch eine riesige Lektion gelernt, bevor es zu spät gewesen wäre, danach zu handeln. Hätte ich ihn verloren, bevor wir unser letztes Gespräch hatten, dann wäre ich den Rest meines Lebens verbittert gewesen, weil die Kirche zwischen uns kam. Jetzt, als alter gebrechlicher Mann, versteht er endlich, dass der Aufbau unserer Familienbeziehungen bei weitem wichtiger sind, als die Anzahl der Stunden, die wir damit zubringen, das "Reich Gottes zu errichten".

Dies ist, glaube ich, ein früher Nachruf für meinen Vater.

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