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der Beitrag:
Verfasser: Renate
Datum: Samstag, den 26. April 2003, um 18:09 Uhr
Betrifft: Psychische Erkrankungen

>Bin ich sensibel oder labil, wenn ich bei Grausamkeiten zu weinen beginne?

Willst du damit sagen, dass du Sensibilität zu den psychischen Krankheiten zählst? Ich hatte zumindest den Eindruck, denn du schreibst weiter:

>Man könnte das jetzt beliebig fortsetzen:
>Bin ich sensibel oder labil, wenn ich bei der Zeugnisversammlung zu weinen beginne...

>Ist es verständlich geworden, auf was ich hinaus möchte?
>Psychisch Kranke sind in unserer Gesellschaft zum einen stigmatisiert, weil sie an dieser Erkrankung leiden und zum anderen wegen der Gründe für diese Erkrankung

Was ist daran krank, wenn man sensibel ist?  Sensibel - lateinisch: sensibilis ... "der Empfindung fähig"
Sind es nicht gerade die sensiblen Menschen, die dafür sorgen, dass eben diese Grausamkeiten ein Ende finden, die sich für Schwächere einsetzen, weil sie sich in sie hineinfühlen, mitleiden und deshalb auch helfen können?

Und was bedeutet labil? Das ist ein sehr breitgefächerter Begriff. Natürlich ist ein Mensch, der alle paar Tage seine Meinung und Einstellung ändert, und deshalb immer wieder anders reagiert, unangenehm oder zumindest sehr anstrengend. Aber ansonsten würde ich sagen, gehört auch eine gewisse Labilität zum Menschsein. Wir sind schließlich keine Roboter, die tagtäglich in gleichbleibender Monotonie unser Leben verbringen. Es ist wichtig und richtig aufgrund neuer Erkenntnisse seine Meinungen ab und zu zu ändern. Oder seine Gefühle auszuleben, und so lange wir uns dabei soweit unter Kontrolle halten können, dass wir durch dieses Ausleben unsere Mitmenschen nicht permanent belasten und ihnen Schaden zufügen, ist das völlig in Ordnung.

>Psychisch Kranke sind in unserer Gesellschaft zum einen stigmatisiert, weil sie an dieser Erkrankung leiden und zum anderen wegen der Gründe für diese Erkrankung

Ja, das ist leider so und dagegen hilft nur Aufklärung. Aber warum ist man gleich psychisch krank, wenn man sensibel und labil ist? Warum ist es krank, seine Emotionen zu zeigen, egal welcher Auslösefaktor sie hervorruft? Ist es krank, zu lachen wenn man sich freut und glücklich ist? Ist es krank, zu weinen wenn man verzweifelt ist oder auch sehr glücklich und voller Freude? Ist es krank, Gefühle zu zeigen? Könnte es nicht sein, dass wir Menschen uns immer mehr vor unseren eigenen Gefühlen fürchten und sie deshalb auch bei anderen nicht ertragen können? Vielleicht weil wir keine Zeit und Lust haben uns mit unseren Mitmenschen auseinanderzusetzen? Weil wir zu egoistisch geworden sind, nur auf unser eigenes Wohl bedacht, auf ein möglichst reibungslos ablaufendes, bequemes Leben?

Selbstverständlich ist gesunder Egoismus (über)lebensnotwendig, aber man kann es auch übertreiben. Genau so wie man seine Hilfsbereitschaft übertreiben kann. Wir sind nicht dazu verpflichtet die gesamte Welt zu retten, aber es ist auch nicht richtig, die Probleme dieser Welt einfach zu negieren. Ein gesundes Mittelmaß wäre da erstrebenswert, das aber jeder ganz individuell - aufgrund seiner Belastbarkeit - für sich selbst bestimmen sollte. Gefühle zu unterdrücken und immer den "Obercoolen" zu spielen ist falsch und macht auf Dauer krank, denn Gefühle sind nun mal auch ein sehr wichtiger Teil unseres "Menschseins" und nichts wofür wir uns schämen müssten.

Immerzu nur funktionieren und angepasst sein müssen, dass ist es, was uns wirklich krank machen kann, auch physisch. Dass ist es was autoritäre Religionsgemeinschaften, wie die HLT, von uns verlangen. Sie drohen bei einer Fehlfunktion mit Ausgrenzung und der ewigen Verdammnis, unsere Gesellschaft droht mit Ausgrenzung und dem Stigma "krank und therapiebedürftig" zu sein. Ich will damit jetzt nicht behaupten, dass eine echte psychische Erkrankung ein Stigma ist, sondern aufzeigen, dass es falsch ist jede Gefühlsregung als krank einzustufen.

Haben wir doch den Mut unsere Tränen, Verzweiflung, Wut, Freude, Fröhlichkeit, unseren Ärger und Spaß zuzulassen. Jeder hat durch die verschiedensten Lebensumstände mal seine depressiven und euphorischen Phasen. Nichts ist schrecklicher, als ein monotoner, emotionsloser, allzeit funktionierender Mensch. Der existiert nämlich nicht, auch wenn er für viele, rein oberflächlich betrachtet, sehr bequem erscheint. Er wäre ein Kunstprodukt. Warum also versuchen, sich einem Kunstprodukt anzupassen?

Würden die Menschen wieder mehr miteinander reden und respektvoller miteinander umgehen, gäbe es auch weniger psychische Störungen und weniger Medikamentenmissbrauch. Jawohl, den gibt es! Man muss nicht gleich wegen jeder Depression Antidepressiva schlucken, es genügen oft schon lange Gespräche mit Menschen, die bereit sind zuzuhören und mitzufühlen, denn das hilft oft schon, im Ansatz entstandene, Probleme zu verstehen und zu lösen, bevor sie sich in der Seele manifestieren und man dann irgendwann nicht mehr weiss, warum man sich so schlecht fühlt. Dann kann oft wirklich nur noch eine gute Gesprächstherapie helfen, die Wurzel des Übels zu finden. Je mehr man seelische Belastungen und Verletzungen verdrängt, umso tiefer bohren sich die Wurzeln in unsere Seele, umso schwerer wird es dann sie zu finden
und zu entschärfen. Auch Antidepressiva schlucken ist eine Verdrängung. Deshalb ist gerade in unserer Gesellschaft eines der kostbarsten Geschenke, die man seinen Mitmenschen machen kann, ihnen Zeit zu schenken. Zeit zuzuhören und echte Anteilnahme zu zeigen. Würde das jeder von uns nur im Kreise seiner Familie und Freunde tun, bräuchten wir weniger teure Therapien und  Psychopharmaka. Ausgenommen davon sind selbstverständlich wieder die echten psychischen Erkrankungen.

Psychisch krank ist für mich ein Mensch erst dann, wenn er durch sein Verhalten anderen und sich selbst permanent Schaden zufügt, egal ob sein Verhalten durch chemische Fehlfunktionen des Gehirns oder rein psychische Überbelastung enstanden ist. In diesen Fällen ist eine medikamentös unterstütze Therapie sicher wichtig und richtig, sofern sie von echten Profis durchgeführt wird.

>Warum sollen die Mitglieder keine Psychopharmaka einnehmen? Um die Psychopharmaka geht’ s doch gar nicht. Jeder, der ernsthaft daran intressiert ist kann nachlesen, dass sie nicht abhängig machen (Antidpressiva nicht, Schlaftabletten schon).

Das ist schon richtig, nur noch besser wäre es die Wurzel der Depression zu erkennen und zu beseitigen. Denn man kann auch so fragen: Warum sollen die Mitglieder Psychopharmaka nehmen, nur um den Druck standzuhalten?

>Die Mitglieder sollen nicht krank sein! Auf jeden Fall nicht SO krank. Sie sind doch Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ...

Das wieder ist ein anderes Thema. Klar, dass Mitglieder der "einzig wahren" Kirche nur ausgeglichen und glücklich zu sein haben.

Da diese Thematik ziemlich diffizil ist und man gerade durch das geschriebene Wort hier leicht missverstanden werden kann - wie wir schon öfter erlebt haben - möchte ich nochmals klarstellen, dass ich mit diesen Worten nicht die ernsthafte und durchaus wichtige Arbeit von guten Psychotherapeuten, Psychiatern oder Psychologen diskreditieren oder in Frage stellen will. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es echte psychische Erkrankungen gibt, die genau so ernst genommen und gesehen werden sollten, wie physische und auf keinen Fall für Betroffene zum Stigma werden sollten

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