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Beitrag 13 von 28 Beiträgen.
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der Beitrag:
Verfasser: Nyu
Datum: Samstag, den 26. April 2003, um 0:31 Uhr
Betrifft: jetzt mal ganz aufrichtig

...Ich kam ja mit meiner Frage daher, wer etwas über Persönlichkeitsstörungen von Mitgliedern von Sekten weiss. So ähnlich jedenfalls. Da schreibt mir doch glatt ein lieber "Bruder" und Freund eine e-Mail und fragt: "Na, willst Du da Deine Persönlichkeitsstörungen analysieren?" Natürlich wollte er mich nur aufziehen. Leider fand ich das aber gar nicht witzig und antwortete ihm mit dem Beitrag "Mißverständnis". Sicher wollte ich keine verletzende Aussage machen.
Wer sogar beruflich mit psychisch Kranken arbeitet, kennt diese Probleme aus erster Hand. Hochachtung davor. Mein Zivildienst war in den Werkstätten für Behinderte. Ich konnte am Ende meiner Zeit dort nicht mehr. Ich muss mit Menschen reden können, für die ich etwas tue. Es ist ja keinesfalls so, dass der Dienst am Nächsten mich schreckt - ich brauche einfach nur die Möglichkeit zum relativ vernünftigen Austausch von Gedanken. Ich kam dort an meine Grenzen, war entsetzt über meinen eigenen Sadismus, geistig Behinderte genau da zu triggern, wo man wusste, dass man sie dort zum Explodieren bringen würde (ja, ich bin halt keine Generalauthorität, deren einzigen Schwächen darin bestehen, dass sie beim Abendmahl nicht immer nur ausschliesslich an Jesus Christus denken).
 
Meine Aussagen bezogen sich also nur auf Auffälligkeiten von Mitgliedern aufgrund ihrer Kirchenzugehörigkeit, denn das ist es ja, was mich interessiert. Also: wirklich keine Aussage von wegen "andere mögen ja irre sein aber ICH sicher nicht" So etwas wäre wohl ganz bestimmt herzlos.
Vielmehr: eine Analyse des Grundes für solche aussergewöhnlichen soziologischen (oder Massenpsychologischen) Phänomene könnte mir helfen, mir darüber klar zu werden, warum ich das hier durchmache. Es könnte mir beweisen, dass es etwas an der Kirche und dem, was sie lehrt, gibt, was die Menschen fertig macht, was sie überlastet und was sie krank macht.
 
Der Loslösungsprozess vom "Morg" ist sehr schmerzvoll. Stimmungsschwankungen gehören dazu.
Ich fühle mich, als ob ich mich auf dem Weg in die Trennung von Gott befinde, obwohl ich ihn eigentlich finden will. Es gibt einfach zu viele Gründe, die es mir unmöglich machen, in die Aktivität in der Kirche zurückzukehren.
Ich fühle mich, als hätte ich die Krücken meines Lebens weggeworfen (so wie der Junge Forrest Gump in dem gleichnamigen Film) und muss nun lernen, selber zu laufen, ohne dieses beengende Stützgerüst.
Ich fühle mich, als wäre ein grosser Teil meines Lebens einfach ersatzlos gestrichen worden. Ich denke, ich würde grosse Fehler machen, indem ich das Garment nicht mehr trage, indem ich nicht mehr hingehe, indem ich mit meinen Freunden einen Trinke und zu laut lache.
Ich habe zugelassen, dass die Kirche mir die Lebensfreude nimmt. Ich hatte das schon viel zu früh zugelassen. Schuld. Mein Geistiges über mir stehendes Ich - dieser eingebildete Gott - wurde eifersüchtig. Er duldete keine anderen Götter neben sich. Er duldete nichts, was nicht 100% mormonisch war. Lächeln, Heimlehre machen und den Bruder X einladen, am Sonntag doch auch mal das Abendmahl zu segnen, mit den Tempelarbeitern auf den Einsatz am Vorhang warten und über belanglosen Quatsch reden, bis die Glocke ertönt, vom Bischof um halb 11 nach der PFK freundschaftlich auf die Schulter geklopft werden. Und sich bei all dem keine Gedanken über das grosse Ganze machen müssen. Das war mein Mormonismus. Mechanisch, wie das Leiten der Endowmentsession, was ich schon dutzende Male gemacht hatte (Als ich in der wahren Ordnung des Gebets "Herr" statt "Himmlischer Vater" sagte, beteten einige im Kreis das nicht mit).
Ich werde jetzt mal ein wenig kritischer...
Am Ende des Monats doch noch mal losgehen, sich irgendeinen Partner suchen und der Familie sagen, dass es besser ist, den Zehnten zu zahlen und sich dann darum Gedanken zu machen, wo man das Essen herkriegt, anstatt Essen zu kaufen. Trotz hoher Schulden mit dem letzten Rest Geld die Fahrt in den Tempel zu unternehmen und auf den Herrn hoffen. Die Verwandten und immer neue Bekannte mit dem blauen Buch zu versorgen und zu Gott zu beten, dass sie es annehmen.  Trotz tief verbuddelter innerer Zweifel von Dingen Zeugnis zu geben, die man sich wahr-gewünscht hat. Segen zu geben, die nie wahr wurden.
Auch das war mein Mormonismus.
Wie kann ich dahin zurück. Doch gibt es so viel in mir, dass weiss, das ich in der Kirche glücklicher war, weil man schliesslich für den Herrn tätig war, ganz gleich, wie beengt die Welt dadurch wurde und ganz gleich, wie kurzsichtig die eigenen Ansichten waren.
Aber eine Alternative hätte es in der Kirche nicht gegeben.
Viele Mitglieder rühmen sich ihrer säkulären Bildung und ihrer "differenzierten" und "liberalen" Weltsicht. Aber die Fakten wollen sie nicht sehen. Die Apologeten blicken auf das Detail aber den Blick für das Gesamtbild verlieren sie.
Nun habe ich also das Stützkorsett abgelegt und muss mich auf das Zeug verlassen aus dem ich wirklich geschnitzt bin. Ich kann mich in dem was ich bin nun nicht mehr auf meine Heimlehrquoten und die Regelmässigkeit des persönlichen Gebets verlassen. Ich muss SEIN.
Der Morg hatte es geschafft, nicht die Entwicklung zu unterstützen, sondern sie zu ersetzen.
Aber die Unsicherheit ist mir lieber als dieser instrumentalisierte dogmatische Ethos.  Er hätte mich zwar nicht Einsichtiger gemacht aber bestimmt beständiger. Aber lieber stehe ich nackt vor dem Herrn als bekleidet mit einer Rüstung aus Dogma und Erwartungen und angeblichen Vollmachten. Es hätte mich wohl verwundert, wenn mir vor dem Thron Gottes keiner entgegen gekommen wäre, der irgendwelche geheimen Handschläge von mir abverlangt hätte.
Ich bin nun in meiner "Inaktivität" genau so aktiv, wie ich es in meiner "Aktivität" war. Ich hatte versucht, einen Mittelweg zu gehen. Aber das ist bei der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzte Tage nicht möglich. Nicht für mich. Es muss raus, was drinnen ist.
Daher lebe ich lieber mit Schuldgefühlen, die ich nur sehr schwer kontrollieren kann, folge aber lieber meinem Gewissen, als dass ich ohne die Schuldgefühle lebe, mein Gewissen aber missachte.
Die uns in der Kirche abgesprochene Kritikfähigkeit macht den Homo Sapiens zum Menschen. Lieber folge ich dieser Erkenntnis, als dass ich so tue als wäre Joseph Smith nicht der David Koresh des 19. Jahrhunderts gewesen.
Gunar, die Mormonen mögen zwar Angst vor Dir haben und Dich für den Satan halten;-) aber ich bin Dir sehr dankbar dafür, dass Du in Deutschland ein Forum gebildet hast, wo Menschen wie ich lernen können, zu sich zu kommen.

Liebe Grüsse,
Henning

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