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Verfasser: Gunar
Datum: Samstag, den 19. Oktober 2002, um 7:33 Uhr
Betrifft: Krieg ist nicht familienfreundlich

Berliner Zeitung
Samstag, 19. Oktober 2002

Krieg ist nicht familienfreundlich

In den USA werden entschärfte Versionen von Erfolgsfilmen angeboten

Gerhard Midding

Mit weit aufgerissenen Augen sitzt das junge Mädchen vor dem Fernseher. Wir können nur erahnen, was sie sieht. Es scheint, als würde sich in seinem Gesicht Entsetzen spiegeln, aber vielleicht ist es auch nur Erstaunen. "No more unpleasant surprises!" verspricht ein Werbeslogan besorgten Kunden. Und etwas weiter unten auf der Seite bürgt der CNN-Moderator Larry King mit seinem guten Namen für das angepriesene Produkt: "Es wird Ihr Familienleben für immer verändern." Aus welchem Jahrzehnt das Bild stammt, lässt sich schwer sagen; auf dem Fernseher steht immerhin noch eine Zimmerantenne.

Doch dies ist ohnehin die Geschichte einer Zeitreise. Sie führt zurück in eine Epoche, als Hollywoodfilme noch auf explizite Sex- und Gewaltszenen verzichteten, als auf ihrer Tonspur kein Fluch und keine Gotteslästerung zu hören waren. Eine solche Reise in unschuldigere Zeiten bietet die Firma "CleanFlicks" ihren Kunden auf ihrer Homepage an. Seit zwei Jahren verleiht die Videotheken-Kette in ihren 76 US-Filialen beschnittene, familienfreundliche Fassungen aktueller Hollywoodfilme. So bleibt es den Zuschauern erspart, die eigenen Augen und die ihrer Kinder bei den Sexszenen in "Titanic" oder "Der mit dem Wolf tanzt" züchtig zu bedecken. Und zu Beginn von Spielbergs "Der Soldat James Ryan" opfern zwar immer noch amerikanische GIs in der Normandie ihr Leben für Freiheit und Ehre, aber ihre Kinder und Enkel müssen nicht mehr mit ansehen, wie sie von einer Kugel getroffen werden oder auch nur einen einzigen Tropfen Blut vergießen.

Es ist ein bislang noch kleiner, aber rasch wachsender Markt, den sich "CleanFlicks" mit 12 Konkurrenten teilen muss. Die Firmen versprechen ihrem Publikum einen unbefleckten Filmgenuss, wenden dazu jedoch unterschiedliche Verfahren an. Während "CleanFlicks" anstößige Szenen aus Videokopien schlicht herausschneidet, bieten Firmen wie "Family Shield" Filter an, die zwischen Fernseher und Video- oder DVD-Player geschaltet werden können und entsprechende Bild- und Tonpassagen ausblenden. Bei "Movie Mask" kann sich der feinfühlige Kunde eine Software herunterladen, die für jeden Film präzis codiert ist und ihm drei Dutzend verschiedener Varianten dieses Filmes anbietet, darunter sogar die Originalfassung.

Der Großteil der Firmen ist in Utah ansässig, das wegen seiner emsigen Einwohner gern beehive state (Bienenkorb-Staat) genannt wird. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind Mormonen, eine der sittenstrengsten und, da ihre Kirche Abstinenz von Rauschmitteln aller Art predigt, zugleich gesündesten Volksgruppen der USA. Die Manager von "CleanFlicks" & Co. kennen ihr Zielpublikum genau. Es besteht aus empfindlichen, konservativen Familienmenschen, die schon immer argwöhnten, dass Hollywood das Böse in ihr Haus trägt und insgeheim fest davon überzeugt sind, dass der Ursprung der meisten Verbrechen in der Pornografie liegt.

Im August hat "CleanFlicks", gewissermaßen als Präventivschlag, 16 Regisseure verklagt, deren Filme sie verleiht. Auf der Liste der Beklagten ist fast die gesamte A-Liga Hollywoods versammelt: Sie reicht von Robert Altman über Michael Mann und Sydney Pollack bis zu Martin Scorsese und Steven Soderbergh. Die Firma beruft sich dreist auf den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, der die Redefreiheit garantiert. Außerdem verweist sie auf die genossenschaftliche Organisation ihrer Videotheken: Jede einzelne VHS-Kassette sei zuvor von Mitgliedern gekauft und dann erst bearbeitet worden.

Die Directors’ Guild, der Berufsverband der Regisseure, antwortete umgehend mit einer Gegenklage. Die Regisseure sehen durch diese Eingriffe das Urheberrecht verletzt ("Das ist so, als würde man Michelangelos David ein Kondom überstülpen", entrüstete sich unlängst Irwin Winkler, einer der Beklagten) und zeigen sich ganz allgemein besorgt über die digitale Manipulierbarkeit ihrer Arbeit. Mit "MovieMask" kann man immerhin nicht nur Kate Winslet in "Titanic" ein züchtiges Korsett verpassen - die Firma ist bereits in Verhandlungen über neue Möglichkeiten des Product Placement in Filmen getreten.

Interessanterweise wird die Debatte nicht über die Doppelmoral der emsigen Zensoren und ihre puritanische Bilderfeindlichkeit geführt. In einem Land, in dem jede Filmkritik mit einem Hinweis auf die Altersfreigabe und einer Warnung vor Sex- und Gewaltszenen endet, ist man es gewohnt, auf das sittliche Empfinden des breiten Publikums Rücksicht zu nehmen. Die Diskussion steht noch ganz im Zeichen des Epochenwandels in der Unterhaltungsindustrie, die sich nach dem 11. September kurzfristig einer flächendeckenden und brachialen Pietät verschrieben hat. So hält sich die moralische Empörung zumal in den Chefetagen der Studios erst einmal in Grenzen. Man weiß schließlich nicht, wie groß dieser Markt noch einmal werden könnte.

http://www.berlinonline.de/aktuelles/berliner_zeitung/feuilleton/.html/185977.html

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