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Beitrag 11 von 12
zum Thema Macht und Missbräuche der «Heiligen»
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der Beitrag:
Verfasser: Gunar
Datum: Montag, den 11. März 2002, um 13:55 Uhr
Betrifft: "Utah ist eine Theokratie"

dieStandard.at
28.02.2002 20:45 MEZ

"Utah ist eine Theokratie"

Wir stehen wieder am Nullpunkt, vor dem Mormonen-Tabernakel auf dem Tempelplatz. Hier warten wir auf eine Frau, die für diese Begegnung 70km aus der erzkonservativen Stadt Orem hierher gefahren ist. Der Treffpunkt ist bewusst gewählt: Helen Weeks war früher Mitglied des weltberühmten Chors, der jetzt hinter uns auf der Bühne probt.

Helen ist eine gepflegte, charmante ältere Dame. Hinter ihrem Lächeln wirkt sie jedoch nervös, während des Interviews blickt sie ständig um sich. "Als ich im Chor war, sagte man uns, jeder Quadratzentimeter im Tempelbezirk werde Tag und Nacht überwacht."

Mehrmals hat sie mich gefragt, für welche Zeitschrift ich nun genau schreibe - ob es wirklich keine subversive Publikation sei? 1989 machte Helen Weeks in einem Dokumentarfilm Aussagen über die Politik in Utah und über das Patriarchat, welche ihr an ihrem Wohnort übel genommen wurden. "Ich wurde von Leuten geschnitten, mit denen ich 50 Jahre lang befreundet war."

Politisch aktiv gegen Willen der Familie

Helen Weeks ist eine Bilderbuchmormonin: Als Mutter von 9 Kindern hat sie 34 Enkel und 19 Urenkel. 17 Jahre lang war sie Sängerin und Soloistin im Tabernakel-Chor. Als sie 1980 bei der Vereidigung von Ronald Reagan auftrat, wurde sie hinter der Bühne von einer Frau auf das Thema Patriarchat angesprochen. Neugierig geworden begann Helen, feministische Literatur zu lesen. Gegen den Willen ihres Mannes und ihrer Familie wurde sie politisch aktiv. Dreimal trat sie als Kandidatin der demokratischen Partei für das Repräsentantenhaus in Utah an, im gleichnamigen Bezirk, der als der konservativste der ganzen USA gilt. "Selbst ein weiblicher Gott (’even God herself’) würde es in Utah County nicht schaffen, als Demokratin gewählt zu werden". Vor einigen Monaten kehrte sie mit ihrem Mann aus China zurück, wo sie ein Jahr lang Englisch unterrichtete.

Fast wie die Taliban

Wir erwähnen unsere Begegnung mit Anne Wilde. "Polygamie in einer zivilisierten Gesellschaft ist ein Greuel", kommentiert Helen. "Und doch ist es ein Glaubensgrundsatz in der mormonischen Kirche und einer, der auf gewisse Männer sehr anziehend wirkt: das Versprechen, dass sie einst zu Göttern werden, eigene Welten kreieren können und viele Frauen und Kinder haben werden. Fast wie die Taliban: Schnurgerade zu Allah und 72 Jungfrauen!"

Grundlage für Inzest

Der BesucherInnenstrom ist an diesem Spätherbstmorgen ein Rinnsal. Die jungen Missionarinnen in ihren knöchellangen, schwarzen Röcken finden keine AnsprechpartnerInnen und kommen immer wieder zu uns zurück. Wir winken ab und suchen Zuflucht hinter einem Denkmal.

"Ein Psychologe an der Brigham Young Universität hat einmal gesagt: Eine Gesellschaft, die den Mann zur Autoritätsfigur macht, die Frau als untergeordnet definiert und die Tochter als gehorsam, legt damit automatisch die Grundlage für Inzest", sagt Helen. "Eines von drei Mädchen in Utah wird von einem Familienmitglied missbraucht, und einer von sieben Knaben. Ich arbeitete jahrelang für den Bezirksanwalt, wo ich mich mit diesen Statistiken auseinandersetzen musste."

Sie weist auf das Denkmal vor uns, das der Frauenhilfsvereinigung gewidmet ist. "Als Präsident Joseph Fielding Smith 1970 an die Macht kam, erklärte er: Wir werden mit dieser ’Unterrockregierung’ (Pettycoat-Power) aufräumen!" Helens Lächeln wird bitter. "Sie zerstörten unsere Vereinigung, nahmen uns unsere Stimme - unsere eigene Zeitschrift - nahmen unser Gebäude und unser Budget, das aus den Spenden der Frauen zusammengetragen worden war."

Utah ist eine Theokratie

Die Herbstsonne verzieht sich hinter Wolken, und wir kehren ins warme Tabernakel zurück. Die Akustik im Raum ist perfekt. Helens Stimme senkt sich zu einem Flüstern. "Ironischerweise garantierte die Verfassung von Utah den Frauen bereits 1896 die Gleichberechtigung, einschliesslich ’religiöser Rechte und Privilegien’. Die Frauen von Utah sollten die gängige Praxis herausfordern, in welcher sie keinen Zugang zu Macht und Privilegien in der Religion haben! Utah ist eine Theokratie. Von Anfang an war es das Ziel, das Königreich Gottes zu erschaffen, das alle anderen Nationen ablösen würde. Wie im Islam. Und es ist noch immer ihr Ziel. Schau doch, wie sie das Missionarsprogramm antreiben - es gibt jetzt etwa 60’000 Missionare in aller Welt."

Auf der Bühne steht noch immer der Chor. Der Dirigent gibt ein Zeichen, Gesang erschallt, ich kriege Gänsehaut; so pur ist der Ton hier im Tabernakel, so rein die Harmonie der Stimmen. Schweigend hören wir zu. Helen blickt stolz auf die Sängerinnen und lächelt versonnen. "Ich stelle mir eine Welt vor, in welcher Frauen freie Hand haben, das Beste zu erschaffen, das sie können - es wäre eine wundervolle Welt, glaubst du nicht auch?"

Keine Machoallüren

Gegen Abend kehren wir in den Vorort South Jordan zum Haus von Dianna und ihrer Familie zurück. Die drei Söhne decken den Tisch für das traditionelle Sonntagsmahl. Diannas Mann zieht die überbackene Lasagne aus dem Ofen. Keine Machoallüren hier. Die Jungen scherzen und wirken erleichtert, ihren dreistündigen Gottesdienst hinter sich zu haben. Vor dem Mahl spricht Dianna ein Gebet und lässt sich dabei sogar von Mark fotografieren, obwohl die Kirche das eigentlich nicht erlaubte. Mormonen-Frauen sind fabelhaft. Sie lassen sich nicht in ein Schema zwingen. Nicht von Brigham Young. Und nicht von mir. (Ende)

Quelle: http://diestandard.at/standard.asp?id=879885

unter dem Bild nebenstehend

Helen Weeks im Tabernakel.

im Kasten nebenstehend:

von Sarah Paris

Die Autorin lebt als freie Journalistin in San Francisco. Ihr Text über die milliardenschwere und männerdominierte Kirche der Mormonen, die ihr Zentrum in Salt Lake City hat, wird in mehreren Teilen auf dieStandard.at veröffentlicht.

Links:

Weitere Infos zu den MormonInnen
Die offizielle Seite
Artikel in LAtimes

Auszug aus Leserkommentaren:

Markus Gappmaier | 01.03. 17:23

"Mormon(inn)en in Zion"? Um wen gehts da wirklich?
Die ersten Berichte zeigten schon, dass es hier nicht um eine repraesentative Darstellung der "Mormoninnen in Zion" geht. Dieser Bericht bestaetigt das. Meine Frau und ich kennen Helen Weeks (sie ist beste Freundin einer unserer Verwandten). Frau Weeks bezeichnet ihre fruehere Aktivitaet als Mormonin als die gluecklichste Zeit ihres Lebens (interessant, nicht?). Oft sind es Lebensumstaende, die uns von Geschaetztem entfremden und dies duerfte - nach ihren eigenen Aussagen - auch bei Frau Weeks so gewesen sein. Stutzig wurde ich, als wir die angebliche Aussage von Praes. Smith (1970) ansprachen. Anders als im Bericht dargestellt, soll diese eine Freundin von H. Weeks zufaellig gehoert haben. Vorsicht! Es ist schon viel "gehoert" worden, was niemand gesagt hat (Deshalb nicht zitieren!). Resultierende Missverstaendnisse haben schon viel Gutes zerstoert! Fr. Weeks, die sich seit Jahren NICHT mehr sorgfaeltig mit Geschehnissen in der Kirche Jesu Christi beschaeftigt, schien freudig ueberrascht, dass fuer "Mormonen" -mich eingeschlossen! - "72 Jungfrauen im Paradies" nie auch nur einen Gedanke wert waren (sie bestaetigte das fuer ihren Mann, einen aktiven Mormonen)! Unsere ungeteilte Aufmerksamkeit gehoert unserer (monogamen) Ehe! Frau Paris, ging es, als Sie all die glaeubigen Mormoninnen in/um Salt Lake City grosszuegig ignorierten, um 60 km suedl. Fr. Weeks zu finden, wirklich um eine Darstellung von "Mormoninnen in Zion" (die sich sicher nicht in Ihr "Schema zwingen" liessen)?

Sarah Paris | 01.03. 22:44

Glauben und Denken
Echos sind immer erfreulich. Dass meine Reportage mit grosser Aufmerksamkeit gelesen und seziert wurde, ist mir eine Ehre. Wie ich in einem früheren Kommentar betonte, ging es mir in diesem Bericht allein um die Darstellung verschiedener Mormoninnen, die ich in Salt Lake City kennengelernt und interessant gefunden habe. Aus Respekt für diese Frauen und ihre ganz verschiedenen Perspektiven habe ich nach Möglichkeit ihre eigenen Aussagen verwendet. Es war tatsächlich schade, dass ich mich dabei auf eine allzu geringe Auswahl von Zitaten beschränken musste. Gerne hätte ich einen viel längeren und inklusiveren Bericht geschrieben, der allerdings nie veröffentlicht worden wäre.

Objektiv kann selbstverständlich kein Text sein, der sich mit dem Thema "Glauben" befasst. Die im Text erwähnten Fakten sind jedoch durchaus korrekt. Wer aufrichtige Fragen dazu hat, darf sich gerne bei mir melden (via Redaktion). Auf Haarspaltereien kann ich mich aber nicht einlassen. Damit zu argumentieren ist eine uralte Strategie, um die Themen, um die es tatsächlich geht, vom Tisch zu wischen.

Über Glauben, Feminismus, das Patriarchat und viele andere Themen mit den Frauen in Salt Lake City zu diskutieren, war für mich wirklich spannend. Es hat mich gefreut von verschiedenen Leserinnen zu hören, dass sie diese Faszination mitfühlen konnten und dass der Text sie zum Denken anregte. Was der Sinn der Übung war.

Markus Gappmaier | 02.03. 22:46

Gedanken
Kommentare hier sehe ich als (durch Zeilenbeschraenkung beengte) Diskussion zum Nutzen von LeserInnen, nicht als Fragen zu dem Glauben den ich in den letzten 35 Jahren intensiv studiert konnte. Solche Fragen spraeche ich im Gespraech mit Gott und praktizierenden Christen meines Vertrauens an. Wer meine Kommentare liest weiss, dass ich versuche, mich mit AutorInnenausfuehrungen fair auseinanderzusetzen. Handelt es sich um Haarspaltereien, wenn ich examplarisch aufzuzeigen versuche, wenn Aussagen irrefuehrend sind (z.B. wenn veraenderte Aussagen wie woertlich Wiedergegebenes praesentiert wird)? Muss eine Aussage unkommentiert bleiben, wenn das einzige faktische an ihr ist, dass es sich dabei um die Wiedergabe einer extremen Einzelmeinung handelt? Uninformierte Leser fragen sich sicher, was denn die Mitglieder der Kirche Jesu Christi mit den nicht gerade geliebten Taliban gemeinsam haben, waehrend Hundertausende Olympiabesucher wissen, wie unpassend dieser gefuehllose Vergleich ist. Wenn schon bei voller Namensnennung nur Vertreterinnen der kleinen Minderheit extremer Kirchenkritikerinnen als "Experten" zu Wort kommen (Einaeugigkeit ist nur fuer Blinde koeniglich!), so entbindet das doch nicht von der Verantwortung fuer das unkommentierte Verbreiten unrichtiger Inhalte. Meine "Strategie" ist gepraegt vom Beduerfnis, Wahrheit von Unwahrheit unterscheidbar zu machen, damit mehr echte Religionsfreiheit entsteht. Ich wuensche mir viele Berichte, die Wahrheitsfindung foerdern!

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