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zum Thema Macht und Missbräuche der «Heiligen»
Seite erstellt am 23.4.24 um 13:09 Uhr
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Verfasser: Gunar
Datum: Dienstag, den 19. Februar 2002, um 0:32 Uhr
Betrifft: Macht und Missbräuche der «Heiligen»

Dies ist ein hervorragender Artikel, wirklich lesenswert!
Ursprünglich erschienen im Tages-Anzeiger am 06.02.02.

Bieler Tagblatt
18.02.2002

Utah: Mormonenstaat

Macht und Missbräuche der «Heiligen»

Die Mormonen von Salt Lake City setzten alles daran, die Olympischen Winterspiele nach Utah zu bringen. Sie sehen darin die Chance, ihr Image zu vergolden und Skeptiker zu überzeugen.

Sarah Paris

Während der Olympischen Spiele richten sich 3,5 Milliarden Augenpaare auf Utah und sehen - die spitzen Türme des Tempels von Salt Lake City. Das Wahrzeichen der Stadt ragt bei jeder Medaillenzeremonie im Hintergrund auf. Der Leiter des Organisationskomitees, Mitt Romney, will den Tempel als Ikone der Winterspiele zur Schau stellen. Romney ist ein gewiefter Politiker - und ein Bischof der Kirche. «DIE Kirche», das bedeutet in Utah die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (HLT), besser bekannt als die Mormonen. Die Olympischen Spiele sind die Chance schlechthin, ihr Image zu vergolden.
Jeder hat von den Mormonen gehört; doch nur wenige kennen mehr als ein paar Klischees, und Vorurteile sind weit verbreitet. Die viel zitierte Polygamie zum Beispiel wurde in Utah bereits 1890 verboten. Mormonen sehen sich als Angehörige eines modernen, christlichen Glaubens; Aussenstehende finden aber noch immer, sie seien eine «absonderliche Sekte».

11 Millionen Mitglieder
Ziel von Gordon B. Hinckley, dem Präsidenten und «Propheten» der Kirche (ihrem weltlichen wie auch geistlichen Oberhaupt), sei es, «der Welt zu erklären, dass die Kirche nicht absonderlich ist». Das meint Jan Shipps, eine Religionswissenschaftlerin und Mormonen-Historikerin, die den 91-jährigen Hinckley persönlich kennt.
Die «Kirche Jesu Christi», wie sie heute vorzugsweise heissen will, hat nach eigenen Angaben derzeit über 11 Millionen Mitglieder - Tendenz steigend. 60 Prozent leben ausserhalb der USA. 60 000 Missionare in 162 Ländern sind eifrig dabei, neue Mitglieder zu gewinnen. Doch auch die daheim Gebliebenen sollen neue Konvertiten anwerben. «Jeder Mormone ein Missionar» ist ein Schlagwort, das im November an Sonntagspredigten weltweit verkündet wurde. Der Soziologe und Mormone Armand Mauss schätzt, dass die HLT-Kirche in den nächsten hundert Jahren auf 250 Millionen Mitglieder anwachsen wird.
Träumt Hinckley davon, die Welt so unter Kontrolle zu bringen wie Utah? Im Staat, wo er als mächtigster Mann gilt, gehören rund 70 Prozent der Bevölkerung zu den «Heiligen» - wenigstens auf dem Papier. Der Gouverneur zählt selbstverständlich dazu, 90 Prozent der Staatslegislative, sämtliche Mitglieder des staatlichen Obersten Gerichtshofes und 85 Prozent der Bürgermeister und Bezirksregierungen. Auch auf der nationalen Ebene wird Utah von Mormonen geführt: Seine fünf Senatoren und elf Abgeordneten im Repräsentantenhaus sind alle Kirchenmitglieder. Neun weitere Abgeordnete aus anderen Staaten sind Mormonen. Prominentester Vertreter im Kongress ist Orrin Hatch, wichtiges Senatsmit- glied.
Finanziell geht es der Kirche glänzend. Schliesslich liefern ihre Mitglieder ein Zehntel ihres Einkommens ab - brutto. Die Kirchenfinanzen sind streng geheim, aber 1997 schätzte «Time Magazine» das Vermögen von «HLT AG» auf elf Milliarden Dollar und ihr jährliches Einkommen auf 600 Millionen, das meiste aus kircheneigenen Unternehmen. Dazu gehören die Brigham Young University (eine der grössten Privatuniversitäten der USA), die Tageszeitung «Deseret News», das Medienunternehmen Bonneville Int., die Lebensversicherungsgesellschaft Beneficial Life und vor allem viel Grundbesitz, darunter eine der grössten US-Rinderranchs. Auch der Fernsehsender, der die Olympischen Spiele in Utah überträgt, gehört der Kirche.

Das Urteil steht noch aus
Die Mormonen, die sich als die «moralisch einwandfreisten Menschen der Welt» bezeichnen, setzten alles daran, die Olympischen Winterspiele nach Utah zu bringen. Als 1998 bekannt wurde, dass die Lobbyisten des Organisationskomitees mit Geschenken im Millionenwert um die Gunst des IOK gebuhlt hatten, freuten sich Kolumnisten wie Karikaturisten. Zwei Mitglieder des OK wurden zu Prügelknaben erklärt und kamen vor Gericht. Der Richter - ein hoch stehendes Mitglied der Kirche - erklärte wichtige Anklagepunkte als nichtig. Das endgültige Urteil steht aus. Aber wen interessiert es noch, wer hinter der Bühne die Fäden zieht, wenn die Welt die Olympischen Spiele verfolgt?
Einer, den die Missbräuche der Kirche interessierten, ist der Historiker D. Michael Quinn. Er hat die Taktiken der Kirche am eigenen Leib erfahren. Der angesehene Geschichtsprofessor wurde 1993 zusammen mit fünf anderen «Ketzern» exkommuniziert. Damals erklärte Boyd Packer, der «Top-Apostel» in der Kirchenleitung, seinen Gegnern den Krieg: Feministinnen, Homosexuellen und «so genannten Intellektuellen». Quinn zählte de facto zu allen drei Gruppen, was seiner Karriere an der Brigham Young University effektiv ein Ende setzte. Der olympische Bestechungsskandal ist für ihn «ein altes Muster».
Quinn und andere behaupten, der Einfluss der HLT-Kirchenleitung erstrecke sich weit über Utah hinaus. Als Frauenrechtlerinnen in den Siebzigerjahren die gesetzliche Verankerung der Gleichberechtigung (Equal Rights Amendment oder ERA) in Amerika durchsetzen wollten, riefen die Apostel zum Krieg. Es sei Pflicht aller Mormonen, sich gegen das ERA zu wehren. Die Propagandakampagne hatte Erfolg. Das ERA wurde nie gesetzlich verankert.
In den letzten Jahren machte sich die Kirche gegen die Gleichstellung homosexueller Paare stark, auch in Kalifornien. Ein Artikel in der Kirchenzeitung 1993 rühmte ihre Fähigkeit, auf politischer Ebene Einfluss auszuüben - selbst in Bundesstaaten, wo weniger als ein Prozent der Einwohner HLT sind. «Die Kirche ist militärisch straff organisiert, viel effizienter als die Republikanische Partei», erklärt D. Michael Quinn und fügt an: «Mit einem einzigen Telefonanruf von der Zentralleitung aus können innert Stunden Tausende von Freiwilligen mobilisiert werden.» In anderen Ländern hält sich die Kirche mit solchen Taktiken zurück, selbst dort, wo sie viele Mitglieder hat. Chiles Bevölkerung etwa hat im Durchschnitt mehr Mormonen als die USA, und auf den Inseln Tonga und Samoa ist ein Drittel der Bevölkerung HLT. Die HLT-Leitung fürchtet einen Gegenschlag. Vor allem in Lateinamerika finden sich Mormonen schon jetzt Feindseligkeiten ausgesetzt.
Politisch ist die Kirche weniger zurückhaltend. D. Michael Quinn beschreibt einen Vorfall in seinem Buch «Mormon Hierarchy - Extensions of Power». 1996 bezeichnete der damalige Kreml-Sicherheitschef Alexander Lebed die Mormonen als «Dreck und Abschaum» und forderte ein Verbot ihrer Religion in Russland. Eine Woche später entschuldigte er sich für die Äusserung, nachdem HLT-Mitglieder des Senates bei der Regierung Clintons vorgesprochen und mit einem Boykott der wirtschaftlichen Unterstützung von Russland gedroht hatten.

Auf diplomatischen Wegen
«Die Kirche nutzt offizielle diplomatische Mittel, um ihren Missionaren den Weg zu ebnen», erklärt Quinn. Als Beispiel erwähnt er den Mormonen David M. Kennedy, Finanzsekretär unter Nixon und Nato-Botschafter der USA. «Nach seiner Dienstzeit wurde er Botschafter der Kirchenleitung und reiste in ihrem Namen in dieselben Länder, die er als Nato-Botschafter besucht hatte. Jetzt konnte er seine Beziehungen dort nutzen, um für die Kirche zu werben.»
Diese Strategie ist nicht unbemerkt geblieben. Jon Huntsman Jun., Erbe des grössten privaten US-Chemiekonzerns, wurde von George W. Bush als Botschafter für China erwogen. Die Chinesen protestierten. Sie sahen die Ernennung eines Mormonen als Vorstoss, um HLT-Missionaren den Eintritt in ihr Land zu ermöglichen. Bush, der von Huntsman grosszügig unterstützt worden war, ernannte seinen Freund in der Folge zum US-Handelsbeauftragten für Asien.
Die Führungsspitze der Mormonen gleicht eher einem Konzern als einer Kirche und besteht aus Männern, welche sich vor allem in Wirtschaft und Politik ausgezeichnet haben. Theologen sind kaum vertreten. Frauen haben in der Kirchenleitung nichts zu suchen. Die HLT-Ideologie hat mit dem Vatikan viele Gemeinsamkeiten, unter anderem die Idee, dass Frauen «für andere Aufgaben bestimmt sind».
Die Mormonen-Historikerin Jan Shipps besteht darauf, dass die Ernennung in den Kirchenrat für gläubige Mitglieder eine Ehre sei, auch wenn sie mit finanziellen Opfern verbunden ist: «Wird ein Firmenleiter in den Rat berufen, muss er seinen gewinnträchtigen Job gegen eine schlecht bezahlte Position austauschen.» Coke Newell, Sprecher der Kirche, will keine genaue Zahl angeben, bestätigt aber, das Salär sei «bescheiden». Und er betont, die Summe sei für alle gleich. Ein Mitglied des Kirchenrates verdiene dasselbe wie Präsident Hinckley.

Handeln im Auftrag Gottes
«Diese Männer glauben daran, dass sie im Auftrag Gottes handeln», erklärt Shipps, die selber nicht Mormonin ist, der Kirche aber positiv gegenübersteht, «nehmen Sie als Beispiel Dallin Oakes.» Oakes, Mitglied der obersten Kirchenleitung und früherer Rechtsprofessor und Oberrichter in Utah, stand unter Präsident Reagan auf der Nominierungsliste für den Obersten Gerichtshof der USA. «Stattdessen rief ihn die Kirche. Für sie opferte er seine Chance, ins höchste Richteramt berufen zu werden.»
Hätte Oakes tatsächlich eine Chance auf den Posten gehabt? Noch ist das Misstrauen unter der Bevölkerung Mormonen gegenüber gross. Als Senator Orrin Hatch im letzten Präsidentschaftsrennen als Kandidat antrat, schied er schon in der ersten Runde aus. «Ich habe ihm offen gesagt, er werde nie Präsident. Nicht als Mormone. Und nicht nach seinem leidenschaftlichen Widerstand gegen die Gleichberechtigung der Frauen», kommentiert Steve Benson.
Der Enkel des früheren Kirchenpräsidenten Ezra Benson kennt Orrin Hatch und andere führende Mormonenpolitiker persönlich. Auch er selbst war für eine politische Karriere bestimmt. Aber die Diskriminierung gegen Frauen und die Behandlung seines Grossvaters führten zu seinem Austritt aus der Kirche. «Mein Grossvater war am Ende seiner Amtszeit als ‹Prophet› total senil. Hinckley und der Rest des Kaders trafen alle Entscheidungen. Sie missbrauchten ihn als Schaufensterpuppe.» Er sei jetzt Atheist geworden, erklärt Benson. Statt in der Politik machte er Karriere als Karikaturist der «Arizona Republic» und gewann dort den Pulitzer-Preis.

Blinder Gehorsam
Dass die Kirchenleitung den Geisteszustand Ezra Bensons verdeckte, hängt mit der Rolle des «Propheten» zusammen. Er sei, so lautet die Doktrin, in ständiger Kommunikation mit dem Herrgott persönlich. Sein Wort ist Gesetz. «Wenn der Prophet spricht, ist das Denken geschehen», lautet ein Motto der Kirche. Der blinde Gehorsam der Mormonen ist auch einer der Gründe, weshalb das FBI und die CIA mit Vorliebe junge Exmissionare anheuern.

http://www.bielertagblatt.ch/article.cfm?id=104064&startrow=2&ressort=Hintergrund&kap=bta&job=7921310

Ãœber die Autorin:
http://www.pariswerlin.com/saragerm.html

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