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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Sonntag, den 23. Mai 2010, um 21:57 Uhr
Betrifft: Der Unterschied zwischen Mittel zum Zweck und Selbstzweck

Hallo Rainer,

wie schon bei unserem letzten Gedankenaustausch muss ich Dir auch diesmal zugestehen, dass vermutlich nicht wenige meiner Glaubensgeschwister die Sache ähnlich sehen wie Du sie darstellst. Du schreibst hierzu:

> ALLE MENSCHEN, die jemals gelebt haben, sind gem. HLT-Lehre auf die mormonischen Tempelverordnungen angewiesen, um in die höchste aller Herrlichkeiten eingehen zu können.

Doch auch wenn vielleicht recht viele Mitglieder meiner Glaubensgemeinschaft diesen Satz unterschreiben würden, halte ich ihn grundsätzlich für falsch. Denn hier werden Mittel und Zweck verwechselt. Tempelverordnungen sind ein Mittel zum Zweck, um bei Gott bleiben zu wollen – sie sind kein Selbstzweck. Für sich alleine genommen sind sie hohl und wertlos. Sie sind nur dann nützlich, wenn sie dazu dienen, Gott näher zu kommen. Nach mormonischer Lehre werden alle Menschen zumindest kurzzeitig zu Gott zurückkehren und irgendwann vor ihm stehen. Die Frage ist dann allerdings, ob es ihnen dort auch gefällt. In Mormon 9: 3 und 4 steht hierzu Folgendes: „Meint ihr denn, es würde euch glücklich machen, bei diesem heiligen Wesen zu wohnen, wenn eure Seele von dem Schuldbewußtsein geplagt ist, daß ihr seine Gesetze immer mißbraucht habt? Siehe, ich sage euch: Ihr wäret viel elender, wenn ihr bei einem heiligen und gerechten Gott wohntet, im Bewußtsein, daß ihr vor ihm schmutzig seid, als wenn ihr bei den verdammten Seelen in der Hölle wohntet.“ Demnach werden wir genau dort weiterleben, wo wir uns am wohlsten fühlen. Das muss nicht unbedingt in der Gegenwart Gottes sein. Ein Leben mit Gott Vater und Gott Sohn wird sicher nicht an diesen beiden Wesen scheitern. Jesus fragt uns in Lukas 13: 34: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt?“ Eine Gemeinschaft mit Gott scheitert höchstens an uns. Ein Tempelbesuch hilft mir persönlich, mich zu sammeln und mich an meine Prioritäten im Leben zu erinnern. Mir ist völlig klar, dass es nicht die Tempelverordnungen sind, die mich in den Himmel bringen, sondern hoffentlich die persönliche Beziehung zu Gott, bei deren Aufbau mir die Tempelbesuche vielleicht ein klein wenig geholfen haben.

Wie gesagt gestehe ich Dir zu, dass viele Mitglieder der HLT-Kirche das von Dir gezeichnete Bild akzeptieren würden. Man könnte diesen Standpunkt auch mit einigen Zitaten von Generalautoritäten belegen. Bei meiner Auffassung geht das jedoch ganz genauso. Ich denke, es ist wichtig, sich als Mormone in dieser Hinsicht nicht mit irgendwelchen Zitaten zufrieden zu geben, sondern stattdessen die eigene Beziehung zu Gott zu stärken. Sieht man ihn mehr und mehr als liebenden Vater, so fällt es zusehends schwerer, die Tempelverordnungen als bloße Formalie und als Selektionskriterium zu betrachten. Joseph Smith hat in seiner Freimaurerzeit viele tiefgründige Symbole und Rituale kennengelernt, die ihm dazu geeignet erschienen, im Tempel wichtige geistige Lehren zu vermitteln. Die heute dort verwendeten Zeichen und Kennzeichen sind suboptimale Hilfsmittel. Sie sind lediglich Gedächtnisstützen, die für Prinzipien und Lehren stehen, die uns dabei helfen sollen, später bei Gott leben zu wollen.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

P.S.: Das Buch „Tempelkult und Totentaufe“, auf das Du im Titel Deines Postings anspielst, habe ich übrigens vor langer Zeit mal gelesen. Ich halte aufgrund der sehr reißerischen Schreibweise wenig davon und bin froh, dass Rüdiger Hauth mittlerweile noch von kaum irgendjemandem ernst genommen wird, der ein wenig von der Materie versteht.

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