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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Donnerstag, den 8. Oktober 2009, um 17:45 Uhr
Betrifft: Verschiedene Brillen

Liebe Sappho,

Dein Posting habe ich mit Interesse gelesen. Ich möchte mich zu der Einstellung äußern, die ich aus Deinem Beitrag herausgelesen habe und die u.a. in folgendem Satz zum Ausdruck kommt:

> Wenn ich alle möglichen Bücher zu einem bestimmten Thema lese, diese Bücher aber weder analysiere noch die nötigen Schlüsse daraus ziehe, ist es so, als ob ich die Bücher nie gelesen hätte.

Du bist also der Ansicht, dass es „nötige Schlüsse“ gibt, die man nach dem Lesen kritischer Literatur ziehen muss, wenn die Auseinandersetzung mit den Texten nicht sinnlos gewesen sein soll. Diese nötigen Schlüsse sind fest definiert. Derartiges Denken erinnert mich an die kulturgeschichtliche Epoche der Romantik im 18. und 19. Jahrhundert. Eine solche Sicht spiegelte sich auch im aufklärerischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts wider: Wahrheit ist absolut. Man braucht nur das richtige Vorgehen und wird irgendwann auf den Kern der Dinge stoßen. Alles ist erklärbar, für jedes Phänomen gibt es eine passende Theorie. Dieses Denken gehört heute jedoch weitgehend der Vergangenheit an. Zum Glück. Denn die Welt und die Menschen sind einfach vielschichtiger. Du siehst die HLT-Kirche durch Deine ganz eigene subjektive Brille. Du bist geprägt von Deinen Vorerfahrungen und Deinen Einstellungen. Genau wie ich. Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, Sappho zu sein. Ich kenne die Brille nicht, durch die ich Literatur über die HLT-Kirche lesen würde, wenn ich selbst eine Geschlechtsidentität hätte, die in meinem konservativen religiösen Umfeld aus dem Rahmen fällt. Aber ich bin mir ganz, ganz sicher, dass es eine andere Brille wäre als meine jetzige. Ähnlich sicher bin ich, dass Du eine andere Brille aufhättest, wenn Du in Deiner früheren Religionsgemeinschaft ausschließlich die Sonnenseiten kennengelernt hättest, wenn Dich mit vielen Deiner Glaubensgeschwister tiefe und tragfähige Freundschaften verbunden hätten, wenn die Orientierung an verschiedenen Geboten Dir nur Erfüllung und Zufriedenheit gebracht hätte und wenn Dir Gottes Wirken hierbei ständig bewusst gewesen wäre. Du weißt nicht, wie sich das anfühlt, oder? Ich will Dir wirklich nicht zu nahe treten. Aber das ist eben meine Welt und ich schäme mich fast dafür, dass ich bisher ein so belastungsfreies Leben geführt habe. Jedenfalls ist es völlig unmöglich, bei der Auseinandersetzung mit Glaubensfragen seine Identität abzulegen und seine Biographie zu vergessen. Das ist keine Frage von Einfältigkeit oder Dummheit. Es geht hier schließlich nicht um Mathematik, sondern um Fragen des Glaubens, der Lebenseinstellung und um die Wertung von teilweise stark subjektiv gefärbter Geschichtsschreibung (und selbst im Bereich der Mathematik sind die Dinge oft nicht so klar, wie sie es im ersten Moment zu sein scheinen). Die Zeit der Romantik ist vorbei. Obwohl John Stackhouse, kürzlich verstorbener Theologe am Regent College in Vancouver, vor einiger Zeit festgestellt hat, dass sich diese Weltsicht auch heute noch v.a. unter Anhängern der verschiedenen Wicca-Religionen findet (das ist kein Witz – er hat das tatsächlich geschrieben).

Durch Deine Beiträge habe ich bereits viel gelernt und ich bin froh für die Perspektiven, die sich für mich dadurch eröffnet haben. Ich schätze Dich und ich schätze ein Klima, in dem abweichende Meinungen und Interpretationen nicht als Symptom einer psychischen Krankheit oder als Blödheit gewertet werden, sondern einfach nur als Ausdruck unterschiedlicher Erlebniswelten. Denn ein intoleranter Umgang mit anderen Positionen wäre mir persönlich zu sektenhaft.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

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