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zum Thema Kolumne: Leaving Las Vegas:-)
Seite erstellt am 20.4.24 um 14:44 Uhr
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der Beitrag:
Verfasser: Gunar
Datum: Samstag, den 12. Januar 2002, um 2:00 Uhr
Betrifft: Kolumne: Leaving Las Vegas:-)

Berliner Zeitung
Maganzin
Samstag, 12. Januar 2002

Leaving Las Vegas

Alexander Osang

Als ich vor sechs Tagen nach Salt Lake City aufbrach, gab mir mein Freund John ein paar Ratschläge mit auf den Weg. Sie lassen sich so zusammenfassen: "Trink noch einen. Du kriegst dort nichts. Die Mormonen trinken keinen Alkohol. Cheers."

John war nie in Utah. Er stammt aus einem kleinen Kaff im Staat New York. Ich glaubte ihm, weil mir nichts anderes übrig blieb. Alles, was ich über die Mormonen wusste, stammte aus einer Erzählung von Hermann Kant, die ich längst vergessen hatte. Ich trank noch einen.

Bereits im Wartesaal des New Yorker John F. Kennedy-Flughafens traf ich die erste Mormonenfamilie. Es waren Vater, Mutter, vier Jungen und ein Mädchen. Mormonenfamilien sind oft groß und meist ist ja auch noch jemand auf Mission. Der Vater hatte keine Haare mehr am Hinterkopf, zwei seiner Söhne trugen Ziegenbärte und das Mädchen hatte ein T-Shirt an, auf dem in Glitzerbuchstaben "Brooklyn" stand. Trotzdem sahen sich alle frappierend ähnlich. Sie waren groß, hatten fallende Schultern und trabten. Wir mussten zwei Stunden auf unseren Flug nach Salt Lake City warten, aber der Familie schien das nichts auszumachen. Sie trabte friedlich vor dem Gate auf und ab. Die sechs Mormonen erinnerten mich, wenn ich das sagen darf, an große Pflanzenfresser. Ein bisschen müde Pflanzenfresser vielleicht, so wie die jungen Männer, die ich aus den Berliner Reformhäusern kannte. Ich hatte immer gedacht, wer im Reformhaus arbeitet, hat rote Backen, aber die Berliner Bioverkäufer sahen kränklich aus. So wie ihre Äpfel.

Im Flugzeug saß ich dann direkt neben der Mutter. Vor mir nahm ihr Mann Platz. Ich kann nicht sagen, dass mich das freute. Ich hätte gern einen letzten Drink in der Luft gehabt, einen Scheidebecher vor Utah, aber das ging jetzt nicht mehr. Die Stewardess wartete auf meine Bestellung, ich brachte das Wort "Bier" nicht über die Lippen. Ich bestellte eine Cola Light, die Mutter nickte. Später bot sie mir das kleine Kuchenquadrat von ihrem Dinertablett an. Es war Walnusskuchen, er war sehr süß und mir war schon von meinem Stück schlecht. Ich aß ihn trotzdem, als Geste der Völkerverständigung. Die große Frau sah mich interessiert an, während ich ihre Walnusskuchenspende aß. Es war, als studiere sie mein Verhalten. Wahrscheinlich dachte sie, Deutsche seien versessen auf Flugzeugwalnusskuchen. Die Familie kehrte gerade von einer sechstägigen Europarundreise heim, auf der sie sicher jede Menge interessante Europäer kennen gelernt hatte. Lissabon, Madrid, London, Zürich und Nizza. In Nizza regnete es, Deutsche essen gern Nusskuchen, Mormonen trinken nicht.

Als die Stewardess noch mal kam, stellte ich mich schlafend. Ich dachte an einen Schnaps.

Ein paar Stunden später im Hotel sagte mir die Dame an der Rezeption als Erstes, dass es von fünf bis sieben am Nachmittag kostenlose Drinks in der Lobby gebe. Als Zweites erklärte sie mir, wo die Bar liegt. Erst dann gab sie mir meinen Zimmerschlüssel. Auf dem Nachttisch fand ich einen Katalog, in dem der Bürgermeister von Salt Lake City mit einem riesigen Bierkrug in der Hand zu sehen war. Es gab jede Menge Kneipen. Sogar in den Skihütten wurde Bier ausgeschenkt. Die Theken glänzten, allerdings sah ich kaum jemanden trinken.

Es erinnerte mich an die Weltfestspiele in Pjöngjang, zu denen ich 1989 reisen durfte. Die Gastgeber hatten viele Hochhäuser errichtet, die allerdings nur in den unteren Stockwerken bewohnbar waren. Oben seien sie völlig leer, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Man konnte das nicht überprüfen, weil in den Treppenhäusern kleine Koreaner saßen, die einen zurückschickten. Von außen sahen die Häuser jedenfalls hoch aus. Weil es normalerweise keine Autos gab, sondern nur Fahrräder, waren für den internationalen Besuch hundert weinrote 190er Mercedes gekauft worden. Die Mercedes kurvten über Straßen, auf denen Jumbojets hätten landen können. Es war eine traurige Flotte des guten Willens. Ein-, zweimal ließ ich mich damals von einem Mann durch Pjöngjang chauffieren, der aussah, als bediene er im normalen Leben Traktoren.

Am Abend ging ich in die Hotelbar. Ich bestellte ein Bier, und dann gleich noch eins. Es war das, was in Salt Lake City von mir erwartet wurde. SCHÖNE NEUE WELT

http://www.berlinonline.de/.bin/print.php/aktuelles/berliner_zeitung/magazin/.html/107953.html

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