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zum Thema Utah РZum normalen Sonntag geh̦ren Gewissensbisse
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Verfasser: Gunar
Datum: Sonntag, den 6. Januar 2002, um 23:42 Uhr
Betrifft: Utah РZum normalen Sonntag geh̦ren Gewissensbisse

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
6.1.2002

Zum normalen Sonntag gehören Gewissensbisse

Auserwählt und geächtet: Wie Sportler in Salt Lake City mit den Vorschriften der Mormonen umgehen /Von Jürgen Kalwa

Am 8. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City. Die Hauptstadt des Bundesstaates Utah hat 163000 Einwohner. Salt Lake City ist das Zentrum der Mormonen, die mehr als 60 Prozent der Bevölkerung Utahs ausmachen. Durch den strengen Moralkodex der Kirche, die den Konsum von Alkohol, Nikotin, Koffein und Drogen jeglicher Art untersagt, sind die Menschen "gesünder und deshalb leistungsfähiger als anderswo", behauptet Mike Leavitt, der Gouverneur von Utah.

Für die meisten hatte das Geschehen an diesem Sonntag im Juni etwas mit Basketball zu tun. Und mit einer Mannschaft, deren beste Profis - die beiden Dream-Team-Spieler Karl Malone und John Stockton - in hervorragender Form waren. Doch für manche hatte das Ereignis eine religiöse Dimension.

Denn normalerweise passiert an einem Tag wie diesem in Salt Lake City nicht viel: Für die Mitglieder der Kirche der Heiligen der Letzten Tage bedeutet Sabbath, daß sie in die Kirche gehen und ansonsten nicht das Haus verlassen. Und alle anderen schalten aus Gewohnheit mindestens zwei Gänge zurück. Das weiß man auch in der Zentrale der National Basketball Association in New York. Weshalb die Utah Jazz in einer normalen Saison an einem Sonntag, wenn überhaupt, allenfalls auswärts spielen. Aber dieser Sonntag im Juni 1997 war anders. Die Jazz hatten die Finalrunde gegen die Chicago Bulls erreicht. Der Spielplan läßt keinen Platz für die besonderen Gepflogenheiten einer einzelnen Glaubensgemeinschaft. An das Resultat der Begegnung - ein 78:73-Erfolg - werden sich nur noch die wenigsten erinnern. Genausowenig wie an die Tatsache, daß Jazz-Besitzer Larry Miller, ein praktizierender Mormone, zu Hause geblieben war. Was hängen geblieben ist, war der ohrenbetäubende Lärm. 110 Dezibel in der Halle, produziert von 20000 ausgelassenen Fans, Gejohle in den leeren Straßen in der Nähe des Delta Center und das stundenlange Hupkonzert, mit dem sich die begeisterten Bewohner von Salt Lake City gegenseitig feierten. "Wir haben so lange auf diese Art der Anerkennung gewartet", sagte ein Zuschauer nach dem Spiel, in das jeder auf seine Weise einen Symbolcharakter projizierte. "Wir waren immer diese verschlafene Stadt. Jetzt gehören wir endlich dazu", meinte ein anderer. "Wir haben jetzt eine Identität", faßte ein Sportreporter das Ganze einen Tag später zusammen. Die alte Krankheit der Mormonen, der innere Zwiespalt zwischen dem Gefühl, einerseits auserwählt und andererseits geächtet zu sein, war - dank Sport und dank der säkularen Ignoranz gegenüber den Verhaltensmaßregeln der Kirche - für ein paar Stunden geheilt. Für ein paar Stunden. Denn am Ende gewannen die Chicago Bulls die Finalrunde und den Titel. Und alle sportbegeisterten Bewohner des Staates Utah erhielten ihre normalen Sonntage zurück. Gewissenskonflikte inklusive.

So wunderte sich denn auch niemand über den Artikel in der "Salt Lake Tribune" ein Jahr später, in dem von dem Dilemma der College-Fußballerin Carrie Iverson die Rede war. Die prinzipienfeste Mormonin hatte nach einiger Suche eine Universität mit einer erstklassigen Mannschaft gefunden, deren Trainer ihr erlaubte, sich von Sonntagsspielen abzumelden. Normalerweise enthalten solche Geschichten immer auch den Kommentar eines Trainers, der beschwichtigt und erklärt, dies sei nichts Besonderes.

"Eine schlimme Stadt"

So war es auch diesmal. "Viele junge Leute mit unterschiedlichem religiösen Hintergrund wachsen damit auf, daß der Sonntag ein heiliger Tag ist", erklärte etwa der Baseball-Trainer der Universität Utah damals. Aber der Satz klingt nicht nur nach der üblichen Augenwischerei. Er ist symptomatisch für den Umgang der rechtschaffenen Bürger von Utah mit ihrem Selbstbild. Andere Glaubensgemeinschaften wie Muslime und Juden ehren Freitage und Samstage. Dann wird in diesem Landstrich im Südwesten der Vereinigten Staaten munter gekickt, geworfen und gespielt. Das gilt erst recht an der nach einem der ersten Religionsführer benannten Brigham-Young-Universität in Provo (BYU), der sportlichen Kaderschmiede für alle, die es in Utah im Basketball und Football zu etwas bringen wollen. Die Hochschule ist sowohl berühmt als auch berüchtigt für ihre strengen Prinzipien, wozu der Verzicht auf Kaffee, alkoholische Getränke und außerehelichen Geschlechtsverkehr gehört. Das Thema kommt in der einen oder anderen Weise mitunter auch außerhalb Utahs auf. Nicht nur, wenn der exzentrische Basketballspieler Dennis Rodman sich über die Mormonen-Kultur beschwert. Oder wenn der NBA-Profi Dirk Nowitzki nach einem Play-off-Spiel die Flucht seiner Mannschaft ins heimatliche Dallas damit begründet, Salt Lake City sei "eine schlimme Stadt". Meistens registrieren Sportanhänger das Phänomen immer dann, wenn ein besonders talentierter Student aus Utah eine Profi-Karriere einschlägt. Quarterback Steve Young etwa, ein direkter Nachfahre von Brigham Young, wußte, daß er bei einer strikten Auslegung der Verhaltensmaßregeln in der National Football League keinen Blumentopf gewinnen würde. Die Liga spielt fast ausschließlich sonntags. Also befreite er sich aus der Zwickmühle mit Hilfe einer eigensinnigen Interpretation der Vorschriften, die die Kirchenoberen weniger Prominenten vermutlich nicht durchgehen lassen würden. Er betrachtete sich als Botschafter der Glaubensgemeinschaft, für die Missionsarbeit zu einem zentralen Element ihres Daseins geworden ist. Andere - wie der ehemalige BYU-Lineman Eli Herring - verzichteten ganz auf den Job und die finanziellen Erträge eines Berufssportlers. Herring schlug eine Laufbahn als Lehrer ein.

Nicht immer läßt sich der Konflikt im privaten Rahmen und auf persönliche Weise regeln. In Städten wie Provo und Farmington schließt die örtliche Verwaltung jeden Sonntag die öffentlichen Freibäder - gegen den Widerstand vieler Steuerzahler. An diesem Tag Schwimmen zu gehen, "wird hier weitgehend als Sünde betrachtet", ermittelte die liberal gesonnene "Salt Lake Tribune" vor einem Jahr in einem Bericht über die Restriktionen. Was die meisten Nicht-Mormonen aufregt. Nur selten geben die Bürgermeister zu, daß sie pure Kirchenpolitik durchsetzen. Gewöhnlich schieben sie fiskalische Gründe für die Schließungen vor. Dort, wo sich Sportanlagen im Privatbesitz befinden, gibt es unterschiedliche Praktiken. So sind im Winter die Skigebiete in den Wasatch Mountains geöffnet. Und im Sommer kann man fast überall Golf spielen. Aber Ausnahmen gibt es auch. So schließt der anspruchsvollste Platz, der vom ehemaligen US-Open-Sieger Johnny Miller entworfene Thanksgiving Point in Lehi, jeden Samstag nachmittag seine Pforten. Das hat sein Besitzer dekretiert, der Computer-Software-Millionär Alan Ashton. Die Abstinenz verhindert, daß der Staat mit seinen zwei Millionen Einwohnern und einer boomenden Wirtschaft ein prestigeträchtiges Golfturnier ausrichten kann. Bei den Profis findet die entscheidende Runde stets am Sonntag statt. Im Vorfeld der Olympischen Spiele, die am 8. Februar - einem Freitag - offiziell in Salt Lake City eröffnet werden, kamen solche Gedanken gar nicht auf. Die Vielzahl der sportlichen Wettbewerbe und das ausgiebige Programm des Eishockeyturniers zieht den Zeitplan der Großveranstaltung auch so schon in die Länge. So kommt es wohl auch, daß die Schlußfeier am 24. Februar stattfindet. Niemand im Land der Mormonen hat Einwände gegen dieses Vorhaben. Es ist zwar ein Sonntag. Aber einer, bei dem die Menschen in Utah von ihrer besten Seite gesehen werden wollen.

http://faz.net/IN/INtemplates/faznet/default.asp?tpl=faz/content.asp&doc={E7DC3E43-3E89-4E2A-8501-4C123E2A40F8}

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