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zum Thema Es breitet sich aus
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der Beitrag:
Verfasser: James
Datum: Dienstag, den 3. Juli 2001, um 4:35 Uhr
Betrifft: Es breitet sich aus

Es macht sich langsam breit in Deutschland. Hingehen!

"Schuldlose Mörder, schuldbeladene Opfer - Marlon Metzen inszeniert Neil LaButes Schauspiel "Bash - Stücke der letzten Tage" ("the latter-plays" in Anlehnung an die LDS, Latter-Days (Saints) mein Zusatz) am Mannheimer Nationaltheater
  
Es sind erstaunliche Texte. Ein bisschen ab- und ausschweifend gelegentlich, aber selbst in den Abschweifungen zielgerichtet; denn stets führen die Details, die eben noch nebensächlich klangen, wieder ins Zentrum zurück, liefern nur einen weiteren wichtigen Mosaikstein zum Verständnis der Geschichte und der Person, die sie erzählt. Durchaus alltäglich klingen sie, diese drei Geschichten - aber in ihrer Mitte lauert der Tod.
  
Neil LaBute hat sie geschrieben, der vierzigjährige amerikanische Autor und Regisseur, der beim Filmfestival von Cannes 2000 für "Nurse Betty" den Drehbuchpreis erhielt. Das Ganze nannte er "Bash" - das englische Wort für "Schlag" - und im Untertitel "latter day plays", "Stücke der letzten Tage": eine Fährte, die in die Irre führen könnte, wollte man sie allzu wörtlich nehmen. Es wäre nämlich durchaus zu eng gegriffen, würde man den Text auf sein religiöses Umfeld reduzieren, die Tatsache also, dass es sich bei den Figuren, wie bei dem Autor selbst, um Angehörige der Kirche der "Heiligen der letzten Tage" handelt. Wohl sind die vier jungen Menschen, die monologisierend drei Geschichten erzählen, Mormonen. Und womöglich spielt ihr Verwurzeltsein in einer Glaubensgemeinschaft, deren Geschichte durchaus gewalttätige Züge trägt, eine gewisse Rolle - aber sie leben in den USA der Gegenwart, und ihre äußeren Lebensumstände unterscheiden sich nicht dramatisch von denen junger Menschen in Europa: man kommt aus dem Mittelstand, ist karrierebewusst, konservativ, nicht sehr tolerant. Und - kaltblütiger Morde fähig.
Die drei, die da getötet haben, geben sich alle Mühe, ihren (unsichtbar bleibenden) Zuhörern zu erklären, wie es zur Tat kommen konnte. Aus Sorge um die Familie - sagt der junge Mann, der seine fünf Monate alte Tochter ersticken ließ, weil er sich durch das (vorgetäuschte) Unglück einen Mitleidsbonus versprach im Kampf um den Erhalt seines Arbeitsplatzes. Aus Abscheu vor der Sünde - sagt der Student, der gemeinsam mit Freunden in einer Toilette einen schwulen Stricher erschlagen hat. Zur Strafe - sagt die junge Frau, die ihren vierzehnjährigen Sohn tötet, um damit dessen Vater, der sie in der Schwangerschaft sitzen gelassen hatte, einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Alle haben also ihre "guten" Gründe - und erschrecken den Zuhörer um so mehr, als er ihnen sein Mitleid nicht ganz versagen kann.
Neil LaBute erweist sich in "Bash" als ein Meister genauer Beobachtung und zielsicherer Charakter-Entblößung, ohne als Autor wertend in die Geschichten seiner Personen einzugreifen. Statt dessen macht er das Angebot, die drei Menschlein als Opfer zu sehen - nicht irgendwelcher sozialer Umstände, sondern von etwas aus weiter Ferne nah heran Geholtem: dem blind waltenden Fatum. Nicht nur die Titel der Episoden "Iphigenie in Orem" und "Medea redux" verweisen in die Antike, ins Reich rachsüchtiger, Opfer fordernder Götter, in die Zeit von Blutschuld und Rache. Die Menschen selbst, die hier sprechen, begreifen sich als Teile eines ihnen nicht verständlichen und schon gar nicht geheuren Planes, der sie lediglich zu Werkzeugen macht. Mit einer furchtbaren Konsequenz: sie fühlen sich nicht schuldig.
Marlon Metzen, der "Bash" jetzt im Schauspielhaus des Mannheimer Nationaltheaters auf die Bühne gebracht hat, verlässt sich ganz auf die Tragfähigkeit des Textes und hat für dessen Umsetzung zwei ebenso junge wie intensive Schauspieler zur Verfügung. Im ersten Teil, "Iphigenie in Orem" ist dies Tobias Randel. Im schwarzen Abendanzug, nach einem fulminanten Einstieg mit Tom Waits’ Ballade "Looking for the heart of saturday", auf einem Barhocker an der Kante der Vorbühne sitzend, gibt er so etwas wie einen Entertainer außer Dienst, der seinen ganzen Charme daran setzt, das Publikum in seine ungeheuerliche Geschichte hinein zu ziehen, Mitwisser, ja, Mitverschworene zu haben.
In "Medea redux" sitzt Barbara Bauer als Mutter, die ihren Sohn der Rache geopfert hat, vor einem langsam immer dunkler werdenden blauen Hintergrund, ganz konzentriert und von der Aura ungeheurer Einsamkeit umgeben. Tief taucht sie in ihre Erinnerungen hinab, und es scheint, als sei dieser Mutter dieser Tod, den sie lange geplant hatte, das Natürlichste von der Welt.
Weniger intensiv und fesselnd ist Neil LaBute der Mittelteil, "Heiligengegacker", geraten. Marlon Metzen, dem dies wohl bewusst war, versucht den Parallel-Monolog des Studentenpärchens auf New-York-Visite aufzupeppen, lässt die beiden Akteure tanzen und singen und bebildert die Szene mit einem Videofilm, der sie tobend, schmusend und ruhend im Hotelzimmerbett zeigt. Er fügt auch einen kleinen Tobsuchtsanfall des Jungen ein, der den nur schwach motivierten Mord an dem Homosexuellen glaubhafter machen soll - vergeblich. Die Kraft der Texte kommt aus der Stille, und das spürte das Publikum und honorierte die Aufführung mit lang anhaltendem Beifall.

Termine

Weitere Aufführungen am 3., 12. und 24. Juli." (Herv. jeweils meinerseits)

Original:
http://www.ron.de/osform/cms_osmm?articleName=HERMES:20010702:2062243&template=templates/cms_osmm/recherche/welt/kultur/meldung.oft

Tip: Mormonen Karten schenken! Wär doch was.

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