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zum Thema Religion in den USA ist immer populistisch
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der Beitrag:
Verfasser: Gunar
Datum: Dienstag, den 26. Juni 2001, um 13:09 Uhr
Betrifft: Religion in den USA ist immer populistisch

Schaffhauser Nachrichten
Dienstag 26. Juni 2001
Ausland

«Religion in den USA ist immer populistisch»

Der Religionshistoriker Randall Balmer sieht den Grund für die tiefe Religiosität der Amerikaner im freien Religionsmarkt.

INTERVIEW: LORENZ KUMMER

Schaffhauser Nachrichten: Die USA vermitteln den Eindruck eines sehr religiösen Landes. Wie tief geht der Glaube der Amerikaner tatsächlich?
Randall Balmer: Sehr tief. Seit Beginn ernsthafter Umfragen nach dem Zweiten Weltkrieg sagen regelmässig über 90 Prozent der Bevölkerung, sie glaubten an Gott oder an eine Art übergeordnetes Wesen. In Europa ist dieser Wert nur etwa halb so gross.
Weshalb sind denn die USA religiöser als Europa?
Balmer: Der wichtigste Grund ist der erste Verfassungszusatz, welcher die absolute Religionsfreiheit garantiert. Dadurch entstand ein freier Religionsmarkt mit einer Vielfalt religiöser Unternehmer, die in Konkurrenz um die Gläubigen stehen. Religion in den USA ist immer populistisch. Die Priester versuchen die Massen anzuziehen, denn sie messen ihren Erfolg an der Grösse ihrer Gefolgschaft. Das hängt damit zusammen, dass es keine Staatskirche gibt wie in Europa, auf die man sich ideologisch ausrichten oder finanziell abstützen könnte. Es ist genau diese Konkurrenzsituation, welche die religiöse Szene derart vielfältig, lebendig und innovativ macht.
Die Vielfalt ist aber auch verwirrend.
Balmer: Sicher. In den USA folgen viele Menschen keiner klaren Doktrin, sondern suchen sich ihre Überzeugungen aus verschiedenen Lehren zusammen. Gleichzeitig üben die grossen protestantischen Hauptkirchen wie Methodisten oder Presbyterianer heute weniger Einfluss aus als noch in den 60er Jahren. Dagegen haben die konservativen evangelikalen Gruppen an Bedeutung gewonnen, die grossen Wert auf ihre Unabhängigkeit legen.
In Europa ist Religion etwas sehr Privates, in den USA sprechen viele Menschen, auch Politiker, in der Öffentlichkeit über ihren Glauben.
Balmer: Auch das hängt mit der stark gewachsenen Zahl der Evangelikalen zusammen, die heute je nach Definition zwischen 25 und 45 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie halten es für ihre Pflicht, öffentlich zu ihrem Glauben zu stehen und zu versuchen, andere Menschen zu überzeugen.
Ist die Missionierung das Geheimnis ihres grossen Erfolges ?
Balmer: Nicht nur. Sie haben auch den freien Religionsmarkt am besten begriffen und sind besser für den Konkurrenzkampf mit anderen Gruppen gerüstet. Ihre Kirchen haben oft keine strikten Strukturen, keine Liturgie und können sich so schneller neuen Bedürfnissen anpassen. Die Willow Creek Community Church in der Nähe Chicagos zum Beispiel wurde 1975 aufgrund von ausgeklügelter Marktforschung kreiert. Heute zieht sie jedes Wochenende 15 000 Menschen an.
Diese Pastoren scheinen ihre Kirchen also wie ein Unternehmen zu führen.
Balmer: Viele bezeichnen sich selbst auch als «Unternehmer zu Ehren Gottes». Religion ist für sie ein Produkt wie jedes andere auch.
Was unterscheidet denn die Evangelikalen theologisch von «normalen» Protestanten?
Balmer: Ihr wichtigster Grundsatz ist die wörtliche Interpretation der Bibel. Sie glauben zum Beispiel nicht an die Evolution, sondern an die Schöpfungsgeschichte, an die Rückkehr Jesu, an die Apokalypse, die Errettung der wahren Christen, während alle andern zur Hölle fahren. Der zweite Pfeiler ist der Glaube in die Erfahrung des Wieder-Geboren-Werdens im Moment, in dem man Jesus für sich entdeckt. Unter diesem Schirm gibt es aber ganz verschiedene Strömungen, etwa die so genannten Fundamentalisten, die eine sehr konservative Doktrin vertreten, spirituell und politisch.
Die Fundamentalisten haben sich ja in den letzten Jahren mit einigem Erfolg in politische Debatten eingeschaltet. Weshalb ist diese Gruppe derart einflussreich?
Balmer: Sie wissen genau, an was sie glauben, und können sich von den andern Glaubensrichtungen abgrenzen, während die Unterschiede zwischen den protestantischen Hauptströmungen immer kleiner geworden sind. Die Religiöse Rechte hat es zudem meisterhaft verstanden, sich als Opfer darzustellen und ein «Wir gegen Sie»-Gefühl zu schaffen, welches die Gemeinschaft zu einem homogenen Wählerblock zusammengeschweisst hat.
Ein Wählerblock, der klar auf der Seite der Republikaner steht.
Balmer: Genau. Sie sind die verlässlichste und die loyalste Kundengruppe der republikanischen Partei.
Im vergangenen Wahlkampf hörte man von ihnen allerdings wenig.
Balmer: Mit dem Ende der «republikanischen Revolution» hat die Religiöse Rechte den Höhepunkt ihrer Macht überschritten. Derzeit findet sogar eine Debatte statt, ob man sich nicht aus der Politik zurückziehen solle. Viele Pastoren glauben, man habe zu viele Kompromisse machen müssen, aber politisch zu wenig erreicht. Gleichzeitig gibt es in der religiösen Szene einen starken linken Flügel, vor allem unter den traditionellen protestantischen Glaubensrichtungen der Methodisten oder Episkopalisten. Diese Bewegung ist aber weniger gut sicht- und hörbar als die Evangelikalen.
Mit George W. Bush im Weissen Haus könnte aber die Religiöse Rechte wieder Auftrieb erhalten.
Balmer: Nicht unbedingt, denn Bush hat ihnen keine grossen Versprechungen gemacht. Viele Evangelikale haben die Hoffnung aufgegeben, sie würden etwa im Bereich der Abtreibung eine Gegenleistung für ihren Einsatz zugunsten Bushs erhalten.
Bush hat immerhin ein Büro zur Förderung religiöser gemeinnütziger Organisationen eingerichtet. Damit wird mehr staatliche Sozialhilfe über religiöse Gruppen fliessen.
Balmer: Was daraus werden wird, ist völlig offen. Viele konservative Kirchen sind skeptisch, weil sie staatliche Einmischung in ihre religiösen Botschaften befürchten.
Die Kirchen in den USA haben eine umfassendere sozialpolitische Funktion als in Europa. Wie kommt das?
Balmer: Sie müssen viel Sozialarbeit übernehmen, weil das vom Staat bereitgestellte soziale Netz grössere Maschen aufweist als in Europa. Dies sieht man am besten am Ausmass der Freiwilligenarbeit in Kirchen und Synagogen, die in den USA viel weiter verbreitet ist. Daneben sind die Kirchen für viele Leute neben dem Arbeitsplatz der einzige Ort, an dem sie andere Menschen kennen lernen können - und deshalb bauen sie ihr gesamtes Leben um die Kirche auf.
Was hat denn den Kirchen zu dieser Funktion verholfen?
Balmer: Primär die zunehmende Mobilität der Gesellschaft. In einer Kirche macht man an einem neuen Ort am schnellsten neue Freunde. Die Kirchen und ihre Sozialprogramme bieten zudem in den immer gesichtloseren Vorstädten Halt und Integration. Viele Leute suchen sich die Kirche nicht nach theologischen Gesichtspunkten aus, sondern nur nach dem Kriterium, welche Aktivitäten sie ihnen und ihren Kindern bietet. Auch hier spielt wieder der freie Religionsmarkt eine Rolle.
Und wer wird in Zukunft diesen Markt dominieren?
Balmer: Viele glauben, die Mormonen seien die Religion der Zukunft. Sie sind heute bereits sehr erfolgreich, und sie dehnen sich mit aggressiven Bekehrungskampagnen immer weiter aus. Evangelikale werden weiterhin erfolgreich sein, auch die grossen protestantischen Kirchen haben ihre Durstperiode wohl überwunden. Der Katholizismus und alle anderen Religionen sind dagegen stark an den ethnischen Hintergrund gekoppelt. Die grösste Energie geht dort von den Einwanderern aus Lateinamerika aus, die eine neue, enthusiastische Art Katholizismus bringen.
Randall Balmer

http://www.shn.ch/pages/artikel.cfm?id=37961

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