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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Samstag, den 20. Dezember 2008, um 0:24 Uhr
Betrifft: Quellenkritik

Hi Sappho,

ich hoffe, es kommt jetzt nicht blöd, wenn ich auf Folgendes hinweise: Die HLT-Kirche hält bis heute geheim, dass im 19. Jahrhundert Hunderte von schwulen Männer in Tempeln aneinander gesiegelt wurden. Um etwas darüber zu erfahren, waren wir v. a. auf die wichtige Aufklärungsarbeit von Antonio A. Feliz angewiesen. Die HLT-Kirche wollte nicht, dass Details darüber an die Öffentlichkeit dringen, da dies ein schlechtes Licht auf die Organisation geworfen hätte (ein typisches Abwehrverhalten dieser Gemeinschaft). Ich habe mir das Buch von Antonio A. Feliz („Out oft he Bishop’s Closet“) zwischenzeitlich besorgt und durchgelesen. Seine Argumentation ist sehr schlüssig und seine Recherchen erscheinen äußerst fundiert. Auf Seite 81 führt er aus: „I found that Joseph began the practice of sealing men to men during the last two years of his life in Nauvoo. Many of the journals, letters, and other materials ... recorded accounts of these sealings of men to men. This practice had continued until 1894, when Wilford Woodruff stopped the practice of the ordinance …” Beeindruckend sind in diesem Zusammenhang seine Verweise auf Quellen wie „Millenial Star“, „Journal of Discourses“, „Joseph Smiths Diary“ (geführt von Willard Richards) oder „Wilford Woodruff Journal“. Leider kam er trotz seiner guten Kontakte zu Mitarbeitern der „Historical Departments“ der Kirche an viele Dokumente nicht heran, die auf der „Restricted list of the First Presidency“ stehen und von der HLT-Kirche unter Verschluss gehalten werden.

So beeindruckend die Ausführungen von Antonio A. Feliz auch sind und so gut das Vertuschungsverhalten der HLT-Kirche hierbei auch ins allgemeine Bild passt – es gibt an der ganzen Sache nur ein kleines Problem: Die Behauptungen im Hinblick auf die Schwulenehen in Tempeln stimmen überhaupt nicht. Auch die ausgiebigen Geschichten rund um die unter Verschluss gehaltenen Dokumente sind völlig haltlos. Die angeführten Zitate sind aus dem Zusammenhang gegriffen und „untermauern“ einen Text, der aus falschen Darstellungen besteht. Aber im Grunde ist es egal – Hauptsache das Gerücht fügt sich als Mosaikstein in ein immer klarer werdendes Gesamtbild ein.

Ich lese seit meiner Jugendzeit immer wieder auch „anti-mormonische“ Literatur. Erfahrungen wie bei der Enttarnung der Recherchen von Antonio A. Feliz als historische Seifenblase habe ich im Laufe meines Lebens immer wieder gemacht. Es tut mir leid, aber ich bin in dieser Hinsicht einfach enorm skeptisch geworden. Besonders misstrauisch bin ich gegenüber Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, die einzig mögliche Interpretation im Hinblick auf ein bestimmtes geschichtliches Problem zu vertreten. Eine solche Haltung und eine fundierte Qualifikation schließen sich quasi aus. Interessant fand ich die Ausführungen in dem Buch „Geschichte studieren“ von Gabriele Lingelbach und Harriett Rudolph zur historischen Quellenkritik. Was ich dort gelesen habe, passt so gar nicht zu der Logik, mit der in diesem Forum zuweilen mit absolut unerschütterlichem Selbstbewusstsein auf die geheimsten Gedankengänge Joseph Smiths geschlossen wird. Jedenfalls hört sich eine fundierte Stellungnahme über die Einführung der Polygamie in der HLT-Kirche von einer Koryphäe wie Douglas J. Davies so viel bescheidener, zurückhaltender und differenzierter an als die kompromisslosen Behauptungen zur Sexbesessenheit von Joseph Smith, die ich in diesem Forum und auf Internetseiten von kirchenkritischen Nichthistorikern gelesen habe. Ich kann gar nicht sagen, als wie groß ich diese Kluft empfinde.

Damit will ich wie immer überhaupt nicht andeuten, dass es in der HLT-Kirche nicht auch viel Schatten gibt. Das weiß ich. Mittlerweile gibt es vermutlich kaum noch einen kritischen Aspekt in der Geschichte meiner Religionsgemeinschaft, von dem ich noch überhaupt nichts gehört habe. Bei meinem (bescheidenen) Studium der HLT-Historie anhand ganz verschiedener Quellen ist mir im Laufe der Zeit immer wieder bewusst geworden, wie wahr doch die Einschätzung von Ravi Zacharias ist, der in seinem Buch „The End of Reason: A Response to the New Atheist“ Folgendes schreibt: „If you know enough about a subject, you can confuse anybody by a selective use of the facts“ (S. 38). Ein kritischer Umgang mit Quellen und eine Zurückhaltung bei ihrer Interpretation erscheinen mir vor diesem Hintergrund zunehmend wichtiger.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

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