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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Freitag, den 19. Dezember 2008, um 9:52 Uhr
Betrifft: Sex ist nicht alles

Hallo Sappho,

vielen Dank für Deine Rückmeldung. Es wäre für mich kein Problem, wenn Joseph Smith tatsächlich Sex mit einigen seiner Frauen gehabt hätte. Jesus selbst hatte polygam lebende Vorfahren und in der muslimischen Welt wird die Vielehe heute noch praktiziert. In den religiösen Traditionen eines wesentlichen Teils der Menschheit finden sich zeitliche Phasen, in denen (von Gott angeblich tolerierte oder sogar gebotene) Polygamie gelebt wurde.

Bei Joseph Smith hat es mich jedoch immer gewundert, dass er erst ganz am Ende seines Lebens damit begann, viele Frauen zu ehelichen (und zwar so viele, dass er mit ihnen kaum etwas zu tun haben konnte). Er heiratete Fanny Alger im Jahr 1836, die nächste Ehe (mit Louisa Beaman) wurde erst 1841 geschlossen (während Joseph die „Gebote Gottes“ normalerweise unmittelbar umsetzte, wartete er damit im Falle von Fanny mehrere Jahre). Nach dem Buch „In Sacred Loneliness“ von Todd Compton ehelichte er 1841 drei, 1842 elf, und 1843 siebzehn Frauen. Während der letzten Jahre seines Lebens war er außergewöhnlich produktiv und vermutlich so beschäftigt wie nie zuvor. In seinem kulturellen Umfeld (außerhalb seiner Glaubensgemeinschaft) musste er sich nicht durch Viktorianische Prüderie eingeschränkt fühlen. Die Gründung der Oneida Community war ein Beleg für die damals herrschenden, teils sehr freizügigen Sichtweisen (in der von John Humphrey Noyes gegründeten Religion wurde die Ehe als Einschränkung empfunden und „freier Sex“ zwischen allen Mitgliedern als akzeptabel angesehen). Wenn es Joseph ausschließlich um seinen „ungezügelten Sexhunger“ gegangen wäre, hätte er es sich viel einfacher machen können als erst am Ende seines Lebens in großer Zahl religiös motivierte Ehen einzugehen, von denen er quasi „nichts hatte“. Sehr oft ließ er um die Hand einer Frau durch seinen Vater, einen Onkel oder eine seiner bereits vorhandenen Frauen anhalten. Wenn er es doch einmal selbst tat, dann war meistens ein Freund wie Brigham Young dabei (so beschreibt es jedenfalls Todd Compton in seinem Buch). Wozu der Aufwand? Und wenn Joseph Smith tatsächlich eine ungebändigte Libido gehabt und diese mit seinen (vermutlich) 33 Frauen ausgelebt hätte, müsste man doch vermuten können, dass aus diesen vielen Beziehungen zahlreiche Kinder hervorgegangen sind. Fakt ist jedoch, dass einige Behauptungen über angebliche Vaterschaften von Joseph Smith erst viele, viele Jahre nach dessen Tod die Runde machten und bislang keins der Gerüchte durch seriöse DNS-Analysen bestätigt werden konnte (obwohl ein solcher Nachweis über die relativ wenigen Generationen hinweg zweifelsfrei möglich wäre).

Ich habe jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass die Bewertung der damaligen Umstände sehr verschieden ausfällt. Ernst zu nehmende und renommierte Geschichtswissenschaftler berücksichtigen bei ihren Überlegungen den historischen und kulturellen Kontext, gehen sehr sorgfältig mit den vorliegenden Quellen um und kommen zu recht differenzierten Urteilen. Ich habe mich darüber mal vor einiger Zeit mit Douglas J. Davies unterhalten. Er ist sicher einer der weltweit angesehensten Historiker im Bereich des Mormonismus. Er bewertet die Situation extrem differenziert und schließt sexuelle Motive für die Einführung der Polygamie aus guten Gründen aus. Unverrückbare Urteilssprüche über die „Sexbesessenheit“ von Joseph Smith (unter Berufung auf eher zweifelhafte Quellen), an denen es nichts zu rütteln gebe und denen man unbedingt beipflichten müsse, wenn man auch nur ein wenig „objektiv“ wäre, habe ich bislang nur von Personen ohne historische Qualifikation vernommen (auf irgendwelchen Internetseiten mit unkontrollierten Inhalten oder in unwissenschaftlichen Büchern).

Naja, jedenfalls stellt die Wertung der Vielehe als ausschließlicher Ausdruck des „ungezügelten Sexhungers“ von Joseph Smith meiner Ansicht nach nur eine von mehreren Möglichkeiten dar, die Situation zu beurteilen. Die Mehrehe wird weder im Alten noch im Neuen Testament verboten. Die zwölf Stämme Israels entstammen polygamen Beziehungen. Das Alte Testament, auf das Jesus z. B. in Matthäus 19:3 Bezug nimmt, erlaubte zweifellos die Vielehe (Jesus hat dies auch nie verurteilt – anders könnte man meiner Ansicht nach z. B. die entsprechenden Ausführungen in Matthäus 22 kaum interpretieren). Martin Luther riet z. B. Landgraf Philipp von Hessen zur Beibehaltung seiner zweiten Ehe, da daran „nichts Unbiblisches sei“. Viele christliche Fürsten lebten in Polygamie. Bei den orientalischen Juden war dies sogar bis ins 20. Jahrhundert üblich. In fast allen muslimischen Ländern ist die Vielehe heute völlig legal und Ausdruck der religiösen Kultur. Auch im Hinduismus und im Buddhismus gibt bzw. gab es die Polygamie. Man kann natürlich stets darauf beharren, es gehe bei all diesen religiös geprägten Traditionen immer nur um „ungezügelten Sexhunger“. Aus meiner Sicht greift diese Interpretation allerdings zu kurz. Es geht im Leben nicht immer nur um Sex.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

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