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Seite erstellt am 23.4.24 um 12:20 Uhr
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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Sonntag, den 24. August 2008, um 7:42 Uhr
Betrifft: Spätes Feedback

Hallo Becky,

meine Antwort kommt spät, weil die vergangene Woche recht arbeitsreich war. Lass mich dennoch kurz auf Deine Anmerkungen eingehen.

"Sicherlich ist es für einige Menschen leichter, ihre Werte zusammen mit Gleichgesinnten zu leben. Es geht aber auch ohne, das weiss ich aus eigener Erfahrung, denn ich war den größten Teil meines Lebens keiner Gemeinschaft/Kirche angeschlossen."

Es ist sicher möglich, alleine zum Training in ein Fitnessstudio zu gehen, alleine das EM-Finale anzuschauen oder alleine Weihnachten zu feiern. Ich erlebe solche Situation allerdings lieber gemeinsam mit Menschen, die ähnlich fühlen und denken wie ich. Bei Dir ist das vermutlich genauso. Und diesen Wunsch nach Gemeinschaft habe ich eben auch im Hinblick auf Ereignisse, die mit meinem Glauben zu tun haben (v.a. Gottesdienste). Aber das ist sicherlich „Geschmackssache“.

"Ich habe innerhalb der HLT-Kirche auch viele liebenswürdige Menschen kennengelernt. Allerdings mußte ich auch miterleben, zu welchen Monstern diese liebenswerten Brüder und Schwestern werden können, wenn ein Familienmitglied aus der Reihe tanzt. Da werden Söhne, die nicht auf Mission gehen möchten, einfach rausgeschmissen. Junge Frauen, die mit 28 Jahren noch nicht verheiratet sind, werden ummißverständlich darauf hingewiesen, daß ein Job als Professorin oder leitende Mitarbeiterin bei der NASA nichts wert seien, die Ehe und das Kinderbekommen sei das Ziel einer Frau. Da werden junge Menschen zum Selbstmord aufgefordert, wenn sie sich als schwul oder lesbisch outen. Diese Schicksale kenne ich nicht vom Hörensagen oder aus irgendwelchen Foren. Ich habe sie selbst erleben müssen. Und dies fand alles mit der Unterstützung der örtlichen Kirchenführer statt."

Was Du erzählst, ist untragbar. Die Verhaltensweisen, die Du hier ansprichst, verurteile ich genauso wie Du auf das Schärfste. Ich kenne in der Kirche natürlich sehr viele Männer, die nicht auf Mission gegangen sind, zahlreiche berufstätige Mütter und mindestens 10 Menschen mit homosexuellen Tendenzen. Einige dieser Personen zählen zu meinen richtig guten Freunden. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn sie mit derartigen „Ratschlägen“ konfrontiert werden würden. Ungebührliche Einmischungen in die Privatsphären von Menschen kommen sicher vor (sowohl in der HLT-Kirche als auch in anderen Glaubensgemeinschaften, in Großfamilien oder in Dorfgemeinden), ich habe sie in meiner Religion aber bisher kaum mitbekommen. Zum Glück habe ich noch nie mitgekriegt, dass ein schwuler oder lesbischer Mensch zum Selbstmord aufgefordert wurde. Ich hoffe, ich hätte die Courage, einen solchen Fall sofort zur Anzeige zu bringen und rechtliche Schritte einzuleiten. In meiner bisherigen Zeit als Mitglied der HLT-Kirche habe ich einige Disziplinarräte miterlebt. Meiner Einschätzung nach hätte ein Kirchenführer kaum eine Chance, einem Disziplinarverfahren mit anschließender Exkommunikation zu entgehen, wenn er derartigen Aufforderungen zustimmen oder sie gar selbst aussprechen würde. Es müsste halt nur an der richtigen Stelle bekannt werden.

"Natürlich macht es Sinn, als Heimlehrer ältere Menschen zu besuchen. Aber dazu muß man nicht Heimlehrer sein. Ja noch nicht einmal Mitglied einer Kirche, nur ein aufmerksamer Mensch."

Ich gebe Dir absolut Recht. Mir persönlich würde es allerdings schwerer fallen, Zugang zu manchen Menschen zu finden. Einige meiner „Heimlehrschäfchen“ kenne ich nicht gut genug, als dass ich sie einfach so besuchen kommen würde. Aber durch die Heimlehrarbeit komme ich mit ihnen in Kontakt. Ich finde das sehr gut und betrachte die investierte Zeit nicht als „Verschwendung“ im Dienst einer dubiosen Kirche.

"Als Mitglied einer Gemeinschaft würde ich mich natürlich verpflichtet sehen, meinen finanziellen Anteil zu leisten. Der Sportverein oder der Gartenclub kosten ja auch Geld. Aber von diesen Mitgliedsbeiträgen wird nicht mein Seelenheil abhängig gemacht. Ich komme nicht in die Sphäre der Schwarzgürtelträger, weil ich meinen Vereinsbeitrag bezahle und auch mein Garten blüht nicht doller. Bei der HLT ist das mit der Zehntenzahlung verbundene und über den Tempel führende Versprechen der ewigen Glückseeligkeit abzulehnen. Wäre die Zehntenzahlung nicht grundlegende Voraussetzung für den Tempeleintritt, wäre es mir egal, wieviel ein Mitglied zu zahlen bereit wäre. Außerdem stösst mir bitter auf, dass der Zehnte nur und ausschließlich an die Kirche gezahlt werden kann. Die Kirche ist reich genug, sie braucht überhaupt kein Geld mehr von den Gläubigen."

Diesen Einwand kann ich nachvollziehen. Man könnte die Praxis, dass der Zehnte ausschließlich an die HLT-Kirche gezahlt werden soll, durchaus in Frage stellen. Wieso soll ich mit einem Zehntel meines Einkommens nicht stattdessen irgendeine andere Institution (Rotes Kreuz, Misereor, SOS-Kinderdörfer) unterstützen oder das Geld nicht für einen sonstigen guten Zweck einsetzen? Ich glaube, viele Moslems spenden den von ihnen erwarteten Obolus dort, wo sie es für persönlich sinnvoll erachten. Allerdings war ich bei der letzten Priesterschaftsversammlung der Generalkonferenz schon davon beeindruckt, wie viele humanitäre Projekte hier vorgestellt wurden, die von der HLT-Kirche unterhalten werden. Natürlich werden von den Zehntengeldern auch andere Ausgaben getätigt (wie etwa für die Verwaltung in Frankfurt). Aber wie es in der PBS-Reportage über die HLT-Kirche heißt, hat sie im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen, die sich humanitär engagieren, noch keinen nennenswerten Finanzskandal erfahren müssen. Das finde ich gut.

"Und die hundertste Ansprache über die Wichtigkeit der Familie? Ich bitte dich! Du scheinst intelligent genug zu sein, dass einmal gereicht hätte. Niemand muß mir sagen, wie wichtig die Familie ist. Und nicht nur die Familie, sondern alle Menschen, die wir lieben. Familie sollte weit mehr sein, als die ausschließliche Bluts- und Eheverwandtschaft."

Richtig, eigentlich sollte es reichen, wenn ein einziges Mal auf die Wichtigkeit hingewiesen wird, alle Menschen zu lieben (innerhalb und außerhalb der eigenen Familie). Ich sehe die Sache allerdings ein bisschen so wie das Erlernen einer Fremdsprache. Natürlich weiß ich, dass der unbestimmte Artikel vor Worten, deren erster Laut als Vokal gesprochen wird, im Englischen „an“ und nicht „a“ heißt. Trotzdem mache ich hier immer wieder Fehler, wenn ich frei drauf los rede. Die englische Sprache liegt mir nicht im Blut und es ist gut, immer wieder ins Gedächtnis gerufen zu bekommen, wie es „richtig“ geht. Genauso ist es aus meiner Sicht nicht völlig sinnlos, in einem Gottesdienst wiederholt über wichtige Werte zu sprechen, obwohl sie allen Anwesenden im Grunde bekannt sind. Ich habe übrigens auch meiner Frau mehrfach gesagt, wie sehr ich sie liebe, obwohl sie intelligent genug ist, um meine erste Liebesbekundung in Erinnerung zu behalten.

"Ich akzeptiere  deine persönliche Sicht auf die Kirche. Meine Sicht ist allerdings eine andere. Nenne es ungerechtfertigt, eine ganze Kirche zu hinterfragen, wenn sie mit ihren Aussenseitern schlecht umgeht. Ich bin allerdings der  Auffassung, dass man gerade daran den Wert eines Systems oder einer Gesellschaft erkennt."

Man kann einen Menschen ja nur dann wenigstens ein bisschen verstehen, wenn man einen halben Mond lang in seinen Mokassins gelaufen ist. Es steht mir nicht zu, Deine Erfahrungen zu hinterfragen, die zu Deinen heutigen Einstellungen geführt haben. Du hast offenbar schlimme Dinge im Hinblick auf den Umgang mit „Außenseitern“ erlebt. Aber ich bin anscheinend während meiner bisherigen Mitgliedschaft in der HLT-Kirche in ganz anderen Mokassins auf ganz anderen Wegen gelaufen als Du. Ich habe bislang zu meinem großen Glück eine Kirche kennengelernt, die zum überwiegenden Teil aus außergewöhnlich toleranten Menschen besteht, die nach dem „Geist“ des 11. Glaubensartikels leben und die dem folgenden Ausspruch Brigham Youngs aus dem sonst manchmal eher abstoßenden „Journal of Discourses“ vorbehaltlos zustimmen und über ihn lachen würden: „Zur Hölle mit den Konformisten. Der Herrlichkeit Gottes wird durch die Individualität und nicht durch die Konformität hinzugefügt.“ Zu so einer Kirche gehöre ich und in ihr fühle ich mich trotz (oder wegen) ihrer Unzulänglichkeiten sauwohl. Hätte ich ähnlich Erfahrungen machen müssen wie Du, würde ich die HLT-Kirche möglicherweise auch im gleichen schlechten Licht sehen.

Vielen Dank für den angenehmen und respektvollen Gedankenaustausch. Ich konnte einige Deiner Standpunkte gut nachvollziehen.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

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