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Verfasser: Gipfelstürmer
Datum: Mittwoch, den 13. August 2008, um 10:31 Uhr
Betrifft: Das Kind mit dem Bade auskippen?

Hallo Manfred,

vielen Dank für Deine Rückmeldung. Du bringst einen wirklich guten Einwand. Ich muss zugeben, dass ich das Zustandekommen des Buches Abraham auch als großen Stolperstein ansehe. Kürzlich habe ich mir einen Vortrag von Stephen E. Thomson aus einem älteren Sunstone-Symposium mit dem Titel „Egyptology and the Book of Abraham“ im Internet angehört (https://www.sunstonemagazine.com/audio/SL93305.mp3). Ich kann den dort vorgetragenen Argumenten wenig entgegnen. Genauso geht es mir bei Deinen Ausführungen auf Deiner Internetseite und bei Deiner Reaktion auf mein Statement. Allerdings fällt es mir auch schwer, die Inhalte einzuordnen. Chemotherapie gilt nach wie vor als die herkömmlichste Behandlungsmethode bei bestimmten Krebsformen ab einem bestimmten Krankheitsstadium. Trotzdem gibt es (vermeintlich) kompetente Menschen, die diesen Weg konsequent ablehnen. Professor Dr. Klaus Maar ist ein Beispiel dafür. Er zeigt in seinem Buch „Rebell gegen den Krebs: Biologische Intensivtherapie“ eine Alternative auf, die für mich überzeugend klingt, aber die ich nicht bewerten kann, weil ich kein Onkologe bin. Jeff Lindsay geht in der Folge „Apologetics: A Believer’s Answers“ der „Mormon Miscellaneous Worldwide Talk Show“ (http://mormonmisc.podbean.com) u.a. auf eines der Faksimile ein und argumentiert, dass das Buch Abraham die Position von Joseph Smith eher stützt als schwächt. Ich gehe davon aus, dass der für die BYU tätige Ägyptologe Dr. John Gee Deine Ansichten zum Buch Abraham im Allgemeinen und zum Faksimile Nr. 3 im Besonderen nicht teilt. Damit will ich nicht Partei ergreifen, weil ich dazu in dieser Frage nicht kompetent bin. Zwar sprechen die mir zugänglichen Indizien eher gegen Joseph Smith. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass ich als Nicht-Ägyptologe in einer Diskussion mit Dr. John Gee über das Buch Abraham hoffnungslos baden gehen würde, wenn ich genau Deiner Meinung wäre.

Was wäre jedoch, wenn Joseph Smith beim Buch Abraham die Gäule durchgegangen wären und er die ganze Sache tatsächlich gefälscht hätte? Ich will und kann diese Option nicht ausschließen. Alles andere wäre nach meinem momentanen Kenntnisstand realitätsfremd. Und was wäre, wenn es sich bei einem solchen „Betrug“ um eines von mehreren Beispielen handeln würde, bei dem sich (angeblich) von Gott berufene Männer in der HLT-Kirche schwere Fehltritte geleistet hätten? Müsste ich bei so viel Menschlichkeit nicht davon ausgehen, dass kein Platz mehr für Göttlichkeit wäre? Ist es schizophren, wenn ich daran glaube, dass aus dem ganzen Schlamassel eine Glaubensgemeinschaft hervorgegangen ist, in der Gott heute wirkt und in der Menschen näher zu Christus geführt werden? Wahrscheinlich ist es das, aber ich befinde mich mit meiner abstrusen Einstellung in guter Gesellschaft, weil ein Herzensbekenntnis zur einer bestimmten Religion vermutlich nicht mit historischen Fakten, mit Logik oder dadurch begründet werden kann, dass ihre Schlüsselfiguren allesamt moralisch unangreifbar waren (bzw. sind). Muss man alle Glaubensrichtungen verteufeln, die das Alte Testament mit Propheten wie Noah oder David als heilige Schrift anerkennen? Noah wurde immerhin nackt und betrunken von seinen Söhnen aufgefunden. Und Daniel hat sogar einen Kontrahenten (indirekt) umbringen lassen, um ungehindert Ehebruch begehen zu können. Kann man die frauenfeindlichen Aussagen von Paulus oder die rassistischen Bemerkungen von Petrus einfach so hinnehmen oder muss man sich zwangsläufig voller Abscheu vom Christentum abwenden? Darf man noch gläubiger Katholik sein, obwohl der Vatikan, an dessen Spitze der „legitime Nachfolger Petrus‘“ steht, 1998 mit hoher Wahrscheinlichkeit den Mord an einem Kommandanten der Schweizer Garde (Alois Estermann) zu verantworten hat? Ist es ethisch vertretbar, sich zur evangelisch-lutherischen Kirche zu bekennen, obwohl der Begründer dieser Glaubensgemeinschaft offenkundig ein Antisemit, Reaktionär und Sozialrassist war? Sicher, Luther hat sich nicht selbst als Prophet bezeichnet, aber macht das die Sache wesentlich besser? Wenn man mal ein bisschen in der Geschichte des Islam herumstochert, tun sich sofort riesige Abgründe auf. Dabei ist die Welt voll von (friedliebenden) Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass der einzige Weg zu Allah über Mohammed führt.

Gibt es überhaupt eine Religion, eine Gewerkschaft, eine Firma, einen Verein, eine Familie oder eine Ehe, die nicht auch ihre dunklen Seiten hat? Natürlich ist es irrational zu behaupten, dass Volkswagen die besten Autos herstellt, dass Schalke 04 die Nummer 1 in Deutschland ist und dass es auf dem Erdboden kein liebenswürdigeres Wesen gibt als meine Frau. Derartige Behauptungen sind absolut angreifbar. Aber ich stehe dazu und stehe auch zur HLT-Kirche, weil ich in ihr genug Wahrheit vorfinde, um mich mit ihr in ihrer heutigen Form als einer von Gott legitimierten Institution identifizieren zu können. Das ist zwar schizophren, aber nicht blöd. Die weltweit bislang größte Studie zu den Bedingungen, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen ungeachtet ihrer schwierigen Umstände selbstbewusst, zufrieden und glücklich werden und bleiben, steht unter der Leitung von Emmy Werner. In dem Buch „Was Kinder stärkt“ heißt es hierzu auf Seite 29: „Eine religiöse Überzeugung ist ebenfalls ein Schutzfaktor im Leben von Risikokindern. Sie gibt den widerstandsfähigen Jungen und Mädchen Stabilität, ein Gefühl, dass ihr Leben Sinn und Bedeutung hat, und den Glauben, dass sich trotz Not und Schmerzen die Dinge am Ende zum Guten wenden. Diese Überzeugung spielte eine große Rolle im Leben der … Kinder …, ganz gleich, ob sie Buddhisten, Mormonen, Katholiken oder Protestanten waren. Auch als sie erwachsen waren, war ein solcher Glaube immer noch ein wichtiger Schutzfaktor in ihrem Leben.“ Ich will das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, indem ich die HLT-Kirche verlasse und auf sie eindresche, weil ich vom Verhalten einzelner Personen enttäuscht bin, weil mir ein paar Aspekte der Lehre abstrus vorkommen oder weil einige unserer Propheten sowas von menschlich waren, dass es kaum zu ertragen ist. Die Annahme, es gäbe keinen Gott, kann ich nicht nachvollziehen. Ich glaube an ihn und tue dies viel lieber und leichter in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. In der HLT-Kirche werden Werte wie Familie, Treue, Ehrlichkeit, Fleiß, Großzügigkeit, Nachsicht, … in einer Weise vermittelt, wie es mir zusagt. Mehr als in jeder anderen Glaubensgemeinschaft, die ich kenne. Mir fällt keine andere Institution ein, in der Menschen so häufig ohne eigene Initiative zu Positionen berufen werden, für die sie denkbar schlecht geeignet sind. Erhält man selbst ein Amt, zeigt einem dies immer wieder die eigenen Grenzen auf, erhält es ein anderer Mensch, so braucht man nicht selten extrem viel Toleranz, um dessen Unzulänglichkeiten zu ertragen. Ich wünsche mir, mal zu einer demütigen, duldsamen und nachsichtigen Person zu werden. Noch bin ich weit davon entfernt, aber ich habe den Eindruck, dass mir meine aktive Zugehörigkeit zur HLT-Kirche bei diesem Ansinnen hilft. Und vielleicht ist das ja auch so von Gott gewollt und er hat diese Glaubensgemeinschaft u.a. zu diesem Zweck ins Leben gerufen.

Wahrscheinlich wird es Dir bei soviel pathetischem Geschwafel fast schlecht. Ich kann das verstehen. Und ich kann es absolut verstehen, wenn sich jemand voller Enttäuschung und Bitterkeit von der HLT-Kirche abwendet. Menschen, die das tun, sind in vielen Fällen weder besser noch schlechter als diejenigen, die überzeugte Mitglieder bleiben. Ich sehe die Sache wie gesagt so wie John Dehlin in seiner kürzlich von mir erwähnten Podcastfolge. Aber ich bin nach wie vor der Ansicht, dass das Verlassen der HLT-Kirche nicht den einzigen Weg darstellt, um mit tatsächlichen und vermeintlichen Widersprüchen in ihrer Lehre und in ihrer Geschichte klarzukommen. Viele Menschen (inklusive mir selbst) sind nach einer langjährigen und kritischen Auseinandersetzung mit ihrem Glauben engagierter denn je.

Viele Grüße

Gipfelstürmer

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