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zum Thema Fiktion hält den Spiegel der Wahrheit gnadenlos vor Augen
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Verfasser: Gunar
Datum: Donnerstag, den 10. Mai 2001, um 10:13 Uhr
Betrifft: Im freundlichen Feuer

DIE ZEIT
20/2001

T H E A T E R

Im freundlichen Feuer

Peter Zadek inszeniert Neil LaButes "Bash" in Hamburg

Von Peter Kümmel

[Foto: Oliver Fantitsch]

Ein Krieg neuer Ordnung hat begonnen, diesmal kämpfen alle gegen alle. Zwei Begriffe aus dem universalen Kriegsjargon haben schon ihren Platz in der Alltagssprache: collateral damage und friendly fire. Der erste Begriff bedeutet, dass beim Kampf um hohe Ziele immer auch niedere Zivilisten auf der Strecke bleiben. Der zweite umschreibt, dass es zum Risiko von Kriegern gehört, im Feuer der eigenen Kameraden zu sterben.

Von freundlichen Feuern und Kollateralschäden, die nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Hinterland geschehen, berichtet der amerikanische Dramatiker Neil LaBute. In drei Einaktern, die unter dem Titel Bash (Schlag) zusammengefasst sind, gibt er guten Bürgern das Wort, die mitten im Frieden die eigenen Leute umbringen.

Im ersten Stück erzählt ein Vater, dass er seine Tochter getötet hat. Im letzten Stück erzählt eine Mutter, dass sie ihren Sohn getötet hat. Im Mittelstück erzählt ein Collegeboy, wie er mit seinen Kumpanen einen Mann totgetreten hat. Keiner der Täter bereut. Keiner weiß mit dem Begriff Schuld etwas anzufangen. Man braucht einen hervorragenden Anwalt, um diese Leute vor einem raschen Urteil zu bewahren. In Hamburg finden sie den Besten, den man für Geld kriegen kann.

"Ich erzähl es mal, abgemacht?"

Peter Zadek hat, eine Woche vor seinem 75. Geburtstag, Bash als deutsche Erstaufführung an den Kammerspielen inszeniert. Dieser Regisseur hat immer vermutet, dass die entscheidenden Kämpfe im Hinterland stattfinden und dass die wahren Fronten durch die Seelen der Menschen verlaufen. Jetzt führt er LaButes Täter mit gelassener Zurückhaltung in den Ring. Sie sind, wie wir, Menschen an der Oberfläche, die fast alles tun würden, um oben zu bleiben. Was sie mit uns gemein haben, ist ihre helle Lust am Weitermachen, ihr Stolz auf die eigene Lebensspur. Sie liefern sich nicht aus, sie ziehen uns zu ihrem Fall hinzu. So stiftet Zadek eine Kumpanei der Überlebenden gegen die Toten, den Klüngel der Sieger. Denn Überleben, so zeigt Zadek, bedeutet: einverstanden zu sein mit fast allem, auch mit dem Untergang der anderen.

Stück Nr. 1: Iphigenie in orem. "Ich erzähl es ein Mal. Ein Mal, weil es wert ist, erzählt zu werden, aber das war’s dann. Abgemacht?", sagt der junge Mann in der Hotelbar. "Jedenfalls, wie ich Sie da so alleine sitzen sah mit Ihrer Flasche, da hab ich mir gedacht, Sie sind bestimmt ein guter Zuhörer."

Der Mann hat sich aufgemacht, um seinen Schmerz mit einem Fremden zu teilen. Er erzählt, dass er sein Töchterchen verloren hat; es ist unter der Bettdecke erstickt. Nach dem Unglück hat er für sich und den Rest der Familie Pizza bestellt: Das Leben musste ja weitergehen. Etwas später erfährt man, dass sein Kind keinem Unglück zum Opfer fiel - der Vater hat es selbst unter die Bettdecke geschoben. Sein Job stand auf der Kippe, und er hoffte, dass seine Arbeitgeber es nicht wagen würden, einen Mann zu feuern, der gerade ein Kind verloren hat.

Ben Becker spielt diesen Mann, der einen vernünftigen Deal mit dem Schicksal gemacht hat und nun jemanden braucht, der das Geschäft absegnet. Seine Stimme hat einen satt bebenden, kraftvollen Ton, in dem wie ein Riss ein unterdrücktes Schluchzen mitläuft, das Falsett der Klage. Sein Leben ist ein Afterlife, und er verbringt es damit, sich gut zuzureden: Alles kam so, wie es musste. Er selbst hat nur ein paar Weichen gestellt. Er hat ein Menschen-opfer gebracht und seine Familie gerettet.

LaButes Monolog ist ein Selbstrechtfertigungssystem von so trockener Vernunft, dass es jederzeit in den Flammen des Wahnsinns aufgehen könnte. Der Kindermörder hat nur einen Aufschub erreicht. Irgendwann wird er seine ganze Familie auslöschen, vielleicht. Das Denken vorbei am Kurzschluss, vorbei am Bilanzamoklauf mit anschließendem Selbstmord - Ben Beckers junger Mann vermittelt davon wenig. Er ist stolz auf den Vorsprung, den er als Erzähler hat. Genießerisch geht er in die Details, denn nur komplett und unzensiert kann die Vergangenheit verkauft werden. Er durchschaut sich, wenn es ihm passt, und delegiert die Schuld ans System. Er schnürt ein Schicksalspaket, das er uns feierlich überreicht: kein Beichtender, sondern ein Bote aus der Welt der großen Evaluierungen.

Stück Nr. 2: Eine Meute von Heiligen. John und Sue sind seit sechs Jahren zusammen, bald werden sie heiraten. Sie tragen Abendkleider und posieren für eine imaginäre Kamera - das Folgende erzählen sie offenbar dem Fotografen, der Bilder für ihre Hochzeitsanzeige macht. Sie waren auf einem Ball, kürzlich in New York. Ein Abend reinen Glücks. Man hat getanzt und allen gezeigt, wie sehr man zusammengehört. Irgendwann wurde Sue müde und legte sich hin, und John ging mit ein paar Kumpels zum Luftschnappen in den Central Park. Aber wenn die Frauen schlafen, werden die Männer zu Ungeheuern, das wissen die Frauen, und sie wollen es so. Erst dann fühlen sie sich in ihrem Schlaf beschützt.

Zivilisation hieß einst: Die Wachen bilden einen Ring um die Schlafenden, als Schutz gegen die Wildnis und den bösen Wolf, und wenn die Schläfer wieder bei Kräften sind, dürfen die Wachenden ruhen. Jetzt ist der Wolf im Ring, und womöglich, so raunt durchaus heiter LaBute, steckt er in uns allen. John jedenfalls, der bibeltreue Mormone, gerät in eine Szene aus Clockwork Orange - und es gefällt ihm. Mit Kumpanen ermordet er einen Homosexuellen. Dann kehrt er zu Sue zurück und steckt ihr den Ring an, den er dem Toten vom Finger zog. Froh fahren die beiden nach Hause und sind noch rechtzeitig zurück zum Gemeindesonntag.

Uwe Bohm und Judith Engel spielen John und Sue als bürgerliche Wiedergänger von Oliver Stones Natural Born Killers. Sie sprechen über Marken, Makeup und über Johns abstehende Ohren, die ihn ärger quälen als die Erinnerung an den Mord, den er beging. John sieht sich als Müllmann der Schöpfung: Schwule sind von Gott nicht vorgesehen, also schafft er sie weg. Der ganze Kerl strahlt und perlt vor lauter Glück, zu den Richtigen zu gehören. Auch wenn er vom Mord erzählt, behält er das Grinsen des Lausbuben, der einen Streich gesteht.

Ein Vorbild für LaBute mag der schwarze Humor englischer Prägung gewesen sein, Schema: Eine komische Alte manikürt ihre Nägel und erzählt von der jüngsten Leiche in ihrem Keller. Aber der Tonfall LaButes ist von heute - er zitiert das Parlando junger Straftäter, die sich unzuständig fühlen für das Blut, das sie vergossen haben. "Ich hab Scheiß gebaut", sagen deutsche Gelegenheitsmörder, wenn sie sich auf der Polizeiwache einfinden. John sieht keinen Grund, sich zu stellen. Am Ende umarmen sich die bürgerlichen Mörder: Sie haben einen vernichtet, der nicht zum Stamm gehörte; nun kann sie nichts mehr trennen.

Schuld bedeutet Nähe. LaButes John aber, darin geschult, ferne Katastrophen kühl zu ignorieren, ist in der Lage, auch das Unglück seiner eigenen Opfer kalt abzuweisen, als fände es in Bombay statt. Er schickt die Aussätzigen von nebenan sozusagen mit einem Faustschlag in die Dritte Welt.

Sues hohle Sanftmut, ihre abgetönte Lüsternheit, ihre berechnende Defensive und Johns gemütlicher, wohlgelaunter, gleichsam swingender Hass - sie ergänzen und bedingen einander: Gemeinsam sind sie unbesiegbar. Zadek inszeniert ihren Auftritt mit hohem Sarkasmus als eine Doppelconference zweier amerikanischer TV-Prediger. Sue und John lassen keinen Zweifel daran, dass es sich lohnt, die Reihen der Anständigen geschlossen zu halten - und sei es mit der Axt.

Die Rache als höchster Wert

Stück Nr. 3: Medea redux. Wieder Judith Engel, diesmal allein. Und welche Verwandlung. Im vorigen Stück war sie Poseurin, schwer damit beschäftigt, ihren Körper mit zartem Colliergriff (Hand schützend-würgend am Hals) im Zaum zu halten, eine Konsenslady in Dauertrance, die sich gschamig ver- und entspannte unterm Twinsetjäckchen, eine Nullachtfünfzehn-Majestät, deren Blick sich süß verschleierte, wenn von anderer Leute Blut die Rede war, eine Grazie, die im Zigarettenbürschchen an ihrer Seite ahnungslos den Mörder weckte. Mit anderen Worten: eine wonnige, grandiose Karikatur.

Jetzt ist sie von all dem das Gegenteil. Kein Mann da, dem sie sekundieren und den sie mit piepsender Stimme groß machen könnte. Sie sitzt an einem Tisch, auf dem ein Rekorder steht und ein Wasserkrug. Sie lächelt, um sich zu wärmen, aber nicht, um zu gefallen. Sie versorgt sich schon lange selbst. Eine alleinerziehende Frau, eine allein mordende Mutter. Sie hatte einen Sohn von einem Mann, der nicht blieb, und sie wusste früh, dass sie den Sohn, den sie liebte, irgendwann einem höheren Zweck opfern würde: der Rache. "Diese Geschichte ist nichts Besonderes, klar", sagt sie, "interessant daran ist einzig und allein die Tatsache, dass sie mir passiert ist."

Peter Zadek will hier keine schauspielerischen Glanzlichter, im Gegenteil: Judith Engels Spiel ist ein Wunder an Abschweifungen, ein Denken in Girlanden, die zu Boden fallen - als würde in einem leeren Ballsaal der Deckenschmuck abgenommen. Einmal scheint sie fast einzudösen in der Sonne eines erinnerten Sommertages.

Sie ist streng zu ihren Zuhörern, und ihre Schuld verwaltet sie souverän: Sie hat dem Sohn einen eingeschalteten Kassettenrekorder in die Badewanne geworfen, und nun erklärt sie sachlich die physikalischen Abläufe - als sei der Versuch, einmal durchschaut, auch rückgängig zu machen.

Man muss dem allem nicht gebannt zuschauen. Manche wenden sich ab, hören zu wie Geschworene, folgen der Frau, so weit sie können. Man erhascht keine magischen Momente, aber man ist mitgereist, mitgesunken.

Ein ziemlich großer Theaterabend aus lauter Einaktern also. Wo die Entscheider, Weltherrscher und Marktforscher nur noch in Massen denken, ist es ein kühner Akt, aus den Massen den zufälligen einen herauszufischen und über ihn das größte anzunehmende Einzelschicksal zu verhängen.

"Die Zahl der Leute, die ihre wichtigsten Gespräche mit sich selbst führen, nimmt ständig zu", sagt Saul Bellow. Auch wenn es sich in Bash um eher fürchterliche Leute handelt: Solange sie einen Zuhörer wie Zadek haben, sind sie nicht verloren.

http://www.zeit.de/2001/20/Kultur/200120_zadek.html

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