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zum Thema Sekte - Ja oder Nein ?
Seite erstellt am 25.4.24 um 19:42 Uhr
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Verfasser: Gunar
Datum: Montag, den 9. April 2001, um 12:20 Uhr
Betrifft: EZW-Kurzinfo: Sekte

Was ist eine Sekte?

Häufig wird gefragt, ob diese oder jene Gruppe eine „Sekte“ ist. Oder jemand will wissen, ob eine von ihm benannte Gemeinschaft „auf der Sektenliste“ steht. Das Bild von der „Sektenliste“ setzt voraus, daß es griffige und leicht anwendbare Kriterien gäbe, mit denen zwischen „guten“ und „schlechten“ Religionsgemeinschaften und damit seriösen Kirchen und eben (problematischen) „Sekten“ schnell unterschieden werden könnte.

Es gibt jedoch keine „schwarze Liste“, auf welcher die „gefährlichen“ Sekten aufgeführt sind. Aufgrund unserer Erfahrungen können wir im Einzelfall jedoch sagen, ob es sich um eine Gruppe handelt, in deren Umfeld es häufiger Konflikte gibt, oder warum wir das Glaubensleben einer bestimmten Gemeinschaft kritisch sehen.

Der theologische Sektenbegriff

Das Problem besteht darin, daß der Begriff „Sekte“ auf zwei unterschiedlichen Ebenen benutzt wird. So gibt es eine theologische Ebene des Sektenbegriffs: Sekte bedeutet hier eine Abspaltung von einer großen Kirche. Aus der Sicht dieser Kirche hat die abgespaltene Gruppe den Boden des gemeinsamen Glaubens verlassen oder die alten Glaubenswahrheiten verändert und ist somit zur „Sekte“ geworden. Meist verschlechtert sich die Beziehung zwischen beiden soweit, daß die Sekte ihrer Mutterkirche jegliche Glaubwürdigkeit abspricht und für sich selbst beansprucht, den einzig wahren Weg zu Gott oder zum Heil des Menschen zu kennen. Häufig fordert sie von ihren Anhängern im gleichen Atemzug totale Unterordnung.

Dieser Prozeß der „Versektung“ läßt sich am Beispiel der Zeugen Jehovas gut zeigen: Ursprünglich hatten sich lediglich einige besorgte Menschen zum Bibellesen zusammengefunden. Diese wollten keinesfalls eine „Sekte“ gründen. Im Laufe der Jahre entstand in diesem Kreis jedoch die Überzeugung, daß nur hier das Wort Gottes angemessen gedeutet und verstanden werden kann und die großen Kirchen verdorben seien. Immer mehr definierten sich die Zeugen Jehovas gerade über ihre Ablehnung all dessen, was den christlichen Kirchen lieb und wichtig ist: Sie lehnen die christlichen Feste und Sakramente ab, deuten die Heilige Schrift um und behaupten, alle Kirchen und Weltreligionen seien Teil des Bösen. Damit ist aus den Bibelforschern des 19. Jahrhunderts eine „Sekte“ geworden.

Heute zählt man die Zeugen Jehovas neben der Neuapostolischen Kirche und anderen Gemeinschaften zu den „klassischen christlichen Sondergemeinschaften“, oder eben verkürzt zu den „klassischen Sekten“. Diese haben eine christliche Wurzel, sie entziehen sich (mehr oder weniger) ökumenischer Zusammenarbeit mit anderen christlichen Gemeinschaften und beanspruchen für sich, den einzig richtigen Weg zum Heil zu kennen.

Der umgangssprachliche Sektenbegriff

Diese zweite Ebene des Sektenbegriffs überlagert den theologischen Sektenbegriff. Was meinen die privaten Fernsehsender und viele Boulevardzeitungen, wenn sie von „Sekten“ reden?

Hier wird der Sektenbegriff genutzt, um in erster Linie eine Abweichung vom Wertekonsens der Gesellschaft zu benennen: Eine Gruppe wird als „Sekte“ empfunden, die (im harmlosen Fall) aus der bürgerlichen Welt aussteigt und zurückgezogen in einer Landkommune lebt, oder die radikal aussteigt, fremde Heilsideen aufnimmt und skrupellos die eigenen Interessen verfolgt.

Auch hierzu ein Beispiel: Das „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“ (ZEGG) in Belzig / Brandenburg wird umgangssprachlich gerne als „Sekte“ bezeichnet. Das ist insofern plausibel, als im ZEGG behauptet wird, daß der wahrhaft befreite und neue Mensch entstehen kann, wenn jeder einzelne ohne Rücksicht auf bürgerliche Werte und Ordnungen seine Sexualität auslebt. Diese Sicht des Menschen ist jedoch einseitig und konfliktträchtig. Die Verheißung einer solchen „Befreiung“ führt häufig in neue Engführungen. Was hat das ZEGG mit einer „Sekte“ zu tun? Das ZEGG ist keine Religion und damit auch keine Abspaltung von einer Mutterreligion, seine Deutung des Menschen ist jedoch eindimensional, ideologiegeladen und wirklichkeitsfern, also eben doch im weiteren Sinne „sektiererisch“.

Der umgangssprachliche Sektenbegriff will also nicht in erster Linie die Abspaltung von einer Mutterkirche aufzeigen, wohl aber auf ethische Entgleisungen hinweisen: Wenn beispielsweise die „Holosophische Gesellschaft“ um den Guru Sant Thakar Singh mit obskuren Meditationsvorstellungen Kinder mißhandelt, dann wird die Öffentlichkeit hier von einer „Sekte“ reden. Dabei bleibt die Frage, ob es sich bei Thakar Sing um eine „Sekte“ im theologischen Sinn handelt, ungeklärt.

Noch deutlicher wird dieser umgangssprachliche Gebrauch des Sektenbegriffs mit Blick auf die derzeit in der Öffentlichkeit viel diskutierte Scientology-Organisation. Bei Scientology handelt es sich weder um eine Abspaltung von einer Mutterreligion noch überhaupt um eine Religionsgemeinschaft. Daß sie dennoch umgangssprachlich häufig als „Sekte“ bezeichnet wird, hängt mit der Lebenswirklichkeit dieser Organisation zusammen: Sie wird als hochideologisierte Gruppe mit beängstigenden Visionen erlebt, als verschworene Gemeinschaft, welche rücksichtslos die eigenen Ziele verfolgt. Kurz: Sie wird als „Sekte“ erlebt.

Was läßt eine Gemeinschaft versekten?

Es gibt ein Geflecht von Kriterien. Wenn mehrere zutreffen, dann wird man sagen können, daß die jeweilige Gruppe in der Gefahr steht, zu „versekten“:

• Die Gruppe ist klar ausgerichtet auf eine Führerfigur oder Führerideologie.
• Sie bindet ihre Anhänger eng an sich bzw. an das eigene Heilskonzept.
• Es gibt kein soziales oder diakonisches Engagement.
• Die Gruppe sieht sich von Feinden umstellt und weiß eher zu sagen, wogegen sie ist, als wofür sie eintritt.
• Kritik ist weder innerhalb noch von außen möglich. Wer Fragen stellt, wird gemieden oder verteufelt.
• Wer die Gruppe verlassen will, wird bedroht; Aussteiger oder Abtrünnige werden tyrannisiert.

Aus diesen Kriterien folgt, daß (zumindest umgangssprachlich) auch Gruppen als „Sekte“ wahrgenommen werden, die genau genommen gar keine religiösen Gemeinschaften sind. Das gilt z. B. für eine „Politsekte“ wie die „Europäische Arbeiterpartei“ (EAP) oder auch für die umstrittene „Psychosekte“ „Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis“ (VPM).

Zeichnen sich eigentlich alle Gruppen, die unter theologischen Kriterien eine „Sekte“ sind, durch unethisches Verhalten ihren Mitgliedern oder der Gesellschaft gegenüber aus? Dem ist nicht so. Die „Johannische Kirche“ zum Beispiel ist theologisch gesprochen eine christliche Sekte, weil sie Joseph Weißenberg für den wiedergekommenen Messias hält. Aber sie ist hinsichtlich ihrer sozialen Wirklichkeit keine Gruppe, die hoch fanatisiert wäre, Menschen zerstört oder andere der genannten Sektenkriterien erfüllt. Die „Johannische Kirche“ soll deshalb hier als Beispiel für eine „harmlose“ Sekte genannt sein: „Harmlos“, weil keine soziale Gefährdung von ihr ausgeht. Aber dennoch muß die „Johannische Kirche“ aus theologischer Sicht kritisiert werden, weil Weißenberg als Inkarnation (=Menschwerdung) des Heiligen Geistes verstanden wird. Das ist für einen Christen inakzeptabel.

„Versektung“ und „Entsektung“

Es wird schnell deutlich, daß der Begriff „Sekte“ tückisch ist. Sachgemäßer wäre es, von „Sondergemeinschaft“, Religionsgemeinschaft oder – falls nötig – von „konfliktträchtigen Gruppen“ zu sprechen. Man muß jedoch sehen, daß sich die Umgangssprache nicht reglementieren läßt: Der Sektenbegriff ist derart griffig und beliebt, daß er sich kaum verdrängen läßt. Ein Kompromiß könnte darin liegen, daß man den Begriff „Sekte“ mehr unter dem Aspekt der Entwicklung sieht: Denn Gruppen und Gemeinschaften können „versekten“ und auch „entsekten“. Die „Siebenten-Tags-Adventisten“ beispielsweise haben sich in den letzten Jahren deutlich „aus der Sektenecke“ heraus bewegt und sind (mehr oder weniger) eine Freikirche geworden. Andere Gruppen, z. B. einzelne Ausprägungen charismatischer Frömmigkeit, sind nie als „Sekte“ angetreten, laufen aber Gefahr, zu „versekten“.

Der Begriff „Sekte“ darf nicht als „Kampfbegriff“ verwendet werden, um kleinere Religionsgemeinschaften oder Andersdenkende zu stigmatisieren. Es gibt jedoch Gruppen und Gemeinschaften, die sich selbst absolut setzten, so tun, als hätten sie Gott oder den Heiligen Geist gepachtet und Menschen mit problematischen Versprechungen abhängig machen. Hier muß man sich nicht wundern, wenn die Öffentlichkeit von „Sekte“ redet. Im kirchlichen oder staatlichen Kontext sollte dieser Begriff jedoch vermieden werden.

Dr. Andreas Fincke
April 1999

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