Beitrag 13 von 16 zum Thema Sekte - Ja oder Nein ? |
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Verfasser: Gunar Datum: Montag, den 9. April 2001, um 12:20 Uhr Betrifft: EZW-Kurzinfo: Sekte
Was ist eine Sekte?
Häufig wird gefragt, ob diese oder jene Gruppe eine âSekteâ ist. Oder jemand will wissen, ob eine von ihm benannte Gemeinschaft âauf der Sektenlisteâ steht. Das Bild von der âSektenlisteâ setzt voraus, daà es griffige und leicht anwendbare Kriterien gäbe, mit denen zwischen âgutenâ und âschlechtenâ Religionsgemeinschaften und damit seriösen Kirchen und eben (problematischen) âSektenâ schnell unterschieden werden könnte.
Es gibt jedoch keine âschwarze Listeâ, auf welcher die âgefährlichenâ Sekten aufgeführt sind. Aufgrund unserer Erfahrungen können wir im Einzelfall jedoch sagen, ob es sich um eine Gruppe handelt, in deren Umfeld es häufiger Konflikte gibt, oder warum wir das Glaubensleben einer bestimmten Gemeinschaft kritisch sehen.
Der theologische Sektenbegriff
Das Problem besteht darin, daà der Begriff âSekteâ auf zwei unterschiedlichen Ebenen benutzt wird. So gibt es eine theologische Ebene des Sektenbegriffs: Sekte bedeutet hier eine Abspaltung von einer groÃen Kirche. Aus der Sicht dieser Kirche hat die abgespaltene Gruppe den Boden des gemeinsamen Glaubens verlassen oder die alten Glaubenswahrheiten verändert und ist somit zur âSekteâ geworden. Meist verschlechtert sich die Beziehung zwischen beiden soweit, daà die Sekte ihrer Mutterkirche jegliche Glaubwürdigkeit abspricht und für sich selbst beansprucht, den einzig wahren Weg zu Gott oder zum Heil des Menschen zu kennen. Häufig fordert sie von ihren Anhängern im gleichen Atemzug totale Unterordnung.
Dieser Prozeà der âVersektungâ läÃt sich am Beispiel der Zeugen Jehovas gut zeigen: Ursprünglich hatten sich lediglich einige besorgte Menschen zum Bibellesen zusammengefunden. Diese wollten keinesfalls eine âSekteâ gründen. Im Laufe der Jahre entstand in diesem Kreis jedoch die Ãberzeugung, daà nur hier das Wort Gottes angemessen gedeutet und verstanden werden kann und die groÃen Kirchen verdorben seien. Immer mehr definierten sich die Zeugen Jehovas gerade über ihre Ablehnung all dessen, was den christlichen Kirchen lieb und wichtig ist: Sie lehnen die christlichen Feste und Sakramente ab, deuten die Heilige Schrift um und behaupten, alle Kirchen und Weltreligionen seien Teil des Bösen. Damit ist aus den Bibelforschern des 19. Jahrhunderts eine âSekteâ geworden.
Heute zählt man die Zeugen Jehovas neben der Neuapostolischen Kirche und anderen Gemeinschaften zu den âklassischen christlichen Sondergemeinschaftenâ, oder eben verkürzt zu den âklassischen Sektenâ. Diese haben eine christliche Wurzel, sie entziehen sich (mehr oder weniger) ökumenischer Zusammenarbeit mit anderen christlichen Gemeinschaften und beanspruchen für sich, den einzig richtigen Weg zum Heil zu kennen.
Der umgangssprachliche Sektenbegriff
Diese zweite Ebene des Sektenbegriffs überlagert den theologischen Sektenbegriff. Was meinen die privaten Fernsehsender und viele Boulevardzeitungen, wenn sie von âSektenâ reden?
Hier wird der Sektenbegriff genutzt, um in erster Linie eine Abweichung vom Wertekonsens der Gesellschaft zu benennen: Eine Gruppe wird als âSekteâ empfunden, die (im harmlosen Fall) aus der bürgerlichen Welt aussteigt und zurückgezogen in einer Landkommune lebt, oder die radikal aussteigt, fremde Heilsideen aufnimmt und skrupellos die eigenen Interessen verfolgt.
Auch hierzu ein Beispiel: Das âZentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltungâ (ZEGG) in Belzig / Brandenburg wird umgangssprachlich gerne als âSekteâ bezeichnet. Das ist insofern plausibel, als im ZEGG behauptet wird, daà der wahrhaft befreite und neue Mensch entstehen kann, wenn jeder einzelne ohne Rücksicht auf bürgerliche Werte und Ordnungen seine Sexualität auslebt. Diese Sicht des Menschen ist jedoch einseitig und konfliktträchtig. Die VerheiÃung einer solchen âBefreiungâ führt häufig in neue Engführungen. Was hat das ZEGG mit einer âSekteâ zu tun? Das ZEGG ist keine Religion und damit auch keine Abspaltung von einer Mutterreligion, seine Deutung des Menschen ist jedoch eindimensional, ideologiegeladen und wirklichkeitsfern, also eben doch im weiteren Sinne âsektiererischâ.
Der umgangssprachliche Sektenbegriff will also nicht in erster Linie die Abspaltung von einer Mutterkirche aufzeigen, wohl aber auf ethische Entgleisungen hinweisen: Wenn beispielsweise die âHolosophische Gesellschaftâ um den Guru Sant Thakar Singh mit obskuren Meditationsvorstellungen Kinder miÃhandelt, dann wird die Ãffentlichkeit hier von einer âSekteâ reden. Dabei bleibt die Frage, ob es sich bei Thakar Sing um eine âSekteâ im theologischen Sinn handelt, ungeklärt.
Noch deutlicher wird dieser umgangssprachliche Gebrauch des Sektenbegriffs mit Blick auf die derzeit in der Ãffentlichkeit viel diskutierte Scientology-Organisation. Bei Scientology handelt es sich weder um eine Abspaltung von einer Mutterreligion noch überhaupt um eine Religionsgemeinschaft. Daà sie dennoch umgangssprachlich häufig als âSekteâ bezeichnet wird, hängt mit der Lebenswirklichkeit dieser Organisation zusammen: Sie wird als hochideologisierte Gruppe mit beängstigenden Visionen erlebt, als verschworene Gemeinschaft, welche rücksichtslos die eigenen Ziele verfolgt. Kurz: Sie wird als âSekteâ erlebt.
Was läÃt eine Gemeinschaft versekten?
Es gibt ein Geflecht von Kriterien. Wenn mehrere zutreffen, dann wird man sagen können, daà die jeweilige Gruppe in der Gefahr steht, zu âversektenâ:
⢠Die Gruppe ist klar ausgerichtet auf eine Führerfigur oder Führerideologie.
⢠Sie bindet ihre Anhänger eng an sich bzw. an das eigene Heilskonzept.
⢠Es gibt kein soziales oder diakonisches Engagement.
⢠Die Gruppe sieht sich von Feinden umstellt und weià eher zu sagen, wogegen sie ist, als wofür sie eintritt.
⢠Kritik ist weder innerhalb noch von auÃen möglich. Wer Fragen stellt, wird gemieden oder verteufelt.
⢠Wer die Gruppe verlassen will, wird bedroht; Aussteiger oder Abtrünnige werden tyrannisiert.Aus diesen Kriterien folgt, daà (zumindest umgangssprachlich) auch Gruppen als âSekteâ wahrgenommen werden, die genau genommen gar keine religiösen Gemeinschaften sind. Das gilt z. B. für eine âPolitsekteâ wie die âEuropäische Arbeiterparteiâ (EAP) oder auch für die umstrittene âPsychosekteâ âVerein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnisâ (VPM).
Zeichnen sich eigentlich alle Gruppen, die unter theologischen Kriterien eine âSekteâ sind, durch unethisches Verhalten ihren Mitgliedern oder der Gesellschaft gegenüber aus? Dem ist nicht so. Die âJohannische Kircheâ zum Beispiel ist theologisch gesprochen eine christliche Sekte, weil sie Joseph WeiÃenberg für den wiedergekommenen Messias hält. Aber sie ist hinsichtlich ihrer sozialen Wirklichkeit keine Gruppe, die hoch fanatisiert wäre, Menschen zerstört oder andere der genannten Sektenkriterien erfüllt. Die âJohannische Kircheâ soll deshalb hier als Beispiel für eine âharmloseâ Sekte genannt sein: âHarmlosâ, weil keine soziale Gefährdung von ihr ausgeht. Aber dennoch muà die âJohannische Kircheâ aus theologischer Sicht kritisiert werden, weil WeiÃenberg als Inkarnation (=Menschwerdung) des Heiligen Geistes verstanden wird. Das ist für einen Christen inakzeptabel.
âVersektungâ und âEntsektungâ
Es wird schnell deutlich, daà der Begriff âSekteâ tückisch ist. SachgemäÃer wäre es, von âSondergemeinschaftâ, Religionsgemeinschaft oder â falls nötig â von âkonfliktträchtigen Gruppenâ zu sprechen. Man muà jedoch sehen, daà sich die Umgangssprache nicht reglementieren läÃt: Der Sektenbegriff ist derart griffig und beliebt, daà er sich kaum verdrängen läÃt. Ein Kompromià könnte darin liegen, daà man den Begriff âSekteâ mehr unter dem Aspekt der Entwicklung sieht: Denn Gruppen und Gemeinschaften können âversektenâ und auch âentsektenâ. Die âSiebenten-Tags-Adventistenâ beispielsweise haben sich in den letzten Jahren deutlich âaus der Sekteneckeâ heraus bewegt und sind (mehr oder weniger) eine Freikirche geworden. Andere Gruppen, z. B. einzelne Ausprägungen charismatischer Frömmigkeit, sind nie als âSekteâ angetreten, laufen aber Gefahr, zu âversektenâ.
Der Begriff âSekteâ darf nicht als âKampfbegriffâ verwendet werden, um kleinere Religionsgemeinschaften oder Andersdenkende zu stigmatisieren. Es gibt jedoch Gruppen und Gemeinschaften, die sich selbst absolut setzten, so tun, als hätten sie Gott oder den Heiligen Geist gepachtet und Menschen mit problematischen Versprechungen abhängig machen. Hier muà man sich nicht wundern, wenn die Ãffentlichkeit von âSekteâ redet. Im kirchlichen oder staatlichen Kontext sollte dieser Begriff jedoch vermieden werden.
Dr. Andreas Fincke
April 1999