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Verfasser: Nyu
Datum: Sonntag, den 5. Februar 2006, um 22:18 Uhr
Betrifft: Authentizität vs. Limbo

die meisten Menschen sind Menschen mit Prinzipien. Ich denke, man sollte auf diesen Werten aufbauen. Aber die meisten Menschen wehren sich auch gegen Dogmen.
Ich sehe darin keinen Werteverfall. Die meisten Christen meinen z.B., dass man Christus anerkennen muss, um Erlösung zu finden. Die Bibel ist diesbezüglich auch sehr eindeutig. Ausserhalb Christi gibt es keine Erlösung. Ich frage mich aber, was das heissen soll. Aus dieser Logik leiten ja auch die HLT ihre Arbeit für die Verstorbenen her.
Heisst das aber, dass ein Mensch nicht erlöst werden kann, wenn er Christus namentlich nicht anerkennt oder heisst dass, das ein Mensch nicht in Gott bewusst eingehen kann (sprichwörtlich ins Reich Gottes einzugehen), wenn er nicht die Dinge annimmt, für die Christus gestanden hat?

Ich weiss es auch nicht. Ich weiss nur, dass ich in den Kirchen irritiert bin, wenn man gleichsam meint, dass ein Tod Jesu Christi eine Art himmlischen Hebel im Universum von "Gerechtigkeit" zu "Gnade" umlegt, wenn man daran glaubt, dass Christus am Kreuz für ihn gestorben ist (oder, wie die Mormonen das tun, daran glaubt, dass er vor allem im Garten von Gethsemane gelitten hat).

Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass Gott von mir will, dass ich lerne, die Liebe Gottes im Beispiel Jesu Christi für mich kennenzulernen, als Liebe anzunehmen und in diesem Beispiel Hoffnung und erwiderte Liebe zu finden. Diese Liebe würde mich dann aus mir selbst heraus motivieren Gott nicht zu fürchten (Gesetzlichkeit), sondern Gott zu vertrauen (Gnade).

Dieser letztere Mechanismus der Liebe ist den Menschen da draussen aber nicht bekannt. Niemand hat ihnen gesagt, dass Christ sein etwas mit den Dingen zu tun hat, die er ganz persönlich jetzt bereits als erstrebenste aller Güter für sich empfindet - nämlich Liebe und wahre Erkenntnis. Jeder will das letztlich haben. Jeder Mensch hat in diesen beiden Gütern seine Verwurzelung und seine innerste Mitte.

Wenn eine Kirche es nicht schafft, den Menschen dort abzuholen, wo er für sich diese beiden Güter findet und zwar in der Sprache, die dieser innerste Kern in ihm spricht, dann kann sie keine einzig-wahre Kirche sein.
Dann können diese Kirchen aber auch keine gemeinsame Front gegen den Werteverfall finden.
Aber was ist das überhaupt, der Werteverfall?

Überlege mal, was seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in der westlichen Wertegemeinschaft passiert ist.
Die Menschen empfinden heute den Wertewandel der 60er Jahre als einen Austausch von Ideologien von einer Generation zur nächsten. Diese Menschen haben aber nicht das Gefühl, dass durch diesen Wertewandel mehr Authentizität in die Welt gekommen ist. Im Gegenteil: die Werte, die bis in die frühen 60er überhaupt noch da waren - so halb-sächlich und heuchlerisch der damaligen Jugend auch immer vorgekommen sein mögen, wurden komplett ausgerissen und durch ein Limbo ersetzt, an dessen Stelle dann die Ego-Gesellschaft der 1980er Jahre getreten ist. Spätestens ab dann war a. der Gang durch die Institutionen gescheitert und b. die Rücksichtslosigkeit zum Zeitgeist erhoben.
Jetzt stehen die Menschen da und sind irritiert, dass es nichts mehr gibt, wohin man sich wertemässig orientieren könnte. Die Jugend der 1990er war doch völlig desorientiert und sprachlos.
Und so wurde der zweite Irak Krieg in den USA in amerikanischen Parlamenten völlig kritiklos hingenommen. So gibt es seit den 90ern nichts mehr, wofür oder wogegen es sich lohnen würde, auf die Strasse zu gehen und zu demonstrieren, es sei denn bei "Kein Krieg für Öl". Mehrwertsteuererhöhung, Hartz I-IV, Rentenkürzungen, Lohnkürzungen, Scheitern der Gewerkschaften, Versagen von Greenpeace, Missbrauch der Demokratien, anarchistischer Kapitalismus und Korruption trotz scheinbar immer knapper werdender öffentlicher Kassen, Studiengebühren, Ökosteuer, Euro=Teuro usw. usf.
Also sehen die Menschen einen Johannes Paul I. oder Benedikt XVI und sehnen sich nach bewehrter Authentizität.

Die Leute sind doch ohnmächtig. Sie sind entsetzt, dass es nichts zu geben scheint, was überhaupt noch irgendeinen Sinn ergibt.
Holt das Ersetzen eines Dogmas durch ein anderes den Menschen aus dieser Ohnmacht? Scheinbar rüttelt es ihn auf, denn die Religionen verzeichnen ja steigende Mitgliederzuwächse (vielleicht nicht die evangelischen Landeskirchen oder die Mormonenkirche).

Interessant ist, dass wir heute ein Spannungsverhältnis haben zwischen Religionsfanatikern auf der einen Seite (Islamisten, konservative Protestanten) - also Religiosität aufgrund eigener ethischer Beschränktheit - und Ohnmacht aufgrund eines moralischen und spirituellen Limbo auf der anderen Seite.

Mehr und mehr Menschen scheinen zu begreifen, dass die einzige Möglichkeit ausser dieser Wahl zwischen Pest und Cholera darin besteht, nach authentischen und haltbaren Werten zu suchen. Wirkliche Spritualität, die sich nicht vor Aufklärung und Information scheut.
Ratzinger z.B. scheint das verstanden zu haben und beantwortet diese Wahlmöglichkeit.

Mich würde hier der Lösungsansatz der HLT-Kirche interessieren.
Bislang beantwortet sie dieses Spannungsverhältnis durch Zentralisierung und die Lehre von der Milch vor dem Fleische.
Nicht wahr?

Henning

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