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Seite erstellt am 28.3.24 um 17:45 Uhr
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der Beitrag:
Verfasser: Nyu
Datum: Mittwoch, den 28. Dezember 2005, um 23:13 Uhr
Betrifft: Entwicklung und einige Beispiele

> Aber meine Entwicklung sieht eher so aus:
> gläubig-kritisch-gläubig-kritisch-gläubig-kritisch-gläubig-kritisch-gläubig UND kritisch.

Ich würde meine Entwicklung so beschreiben:
Kritisch; Feuer und Flamme; Desillusioniert und Ernüchtert; Gläubig; Kritisch/Gläubig; Verzweifelt; Erschüttert/Entschlossen/Unsicher; Abgefallen/Unglücklich/Sicher; Ausgetreten/Sicher.

So in etwa.

Was Du in Bezug auf Dein Gefühl zur Kirche beschrieben hast, kann ich sehr gut verstehen und ich kann Dich nur zu Deinem Selbstverständnis beglückwünschen.

Ich kann hierzu aber nur folgendes anmerken:
Ich konnte diese immer wieder auftretenden vier bis fünffach-widergekäuten Mythen oder Schönfärbereien nicht ertragen. Ich kann es auch immernoch nicht und kann es immer weniger.

Bruder X gibt ein Tränenerfülltes Zeugnis eines brennenden Gefühls, als er gehört hat, wie Präsident Y vor zwei Jahren ein ebenso flammendes Zeugnis gab, was auf einer Aussage des Siebzigers Z beruht, welcher sich über ein Zitat von Heber J. Grant Gedanken gemacht hat als Interpretation einer Aussage von Joseph Smith.
So entsteht Kirchenkultur.

Sie entsteht so, wie man auch am  Beispiel des Wortes der Weisheit sehen kann:
Im 19. Jahrhundert waren die Mäßigkeitsgläubigen in den USA sehr verbreitet, vor allem in Neu-England (als christliches Gegenbild zum Whiskey trinkenden Raufbold). Diese glaubten an die Dinge, die später spiegelbildlich im Book of Commandments als "Wort der Weisheit", nicht als Gebot, sondern als Rat und Empfehlung auf Anweisung von Joseph Smith niedergeschrieben wurden. Emmas Beschwerde über die ungeheuerliche Herumspuckerei in den smithschen Räumlichkeiten in Kirtland mag den Ausschlag gegeben haben. Zeit seines Lebens nahm die Kirche das mit diesen "Empfehlungen" schon recht genau, selbst wenn Joseph selber sich bis zu seinem Todestag nicht immer daran hielt und selber gerne mal einen über den Durst trank und das auch anderen empfahl oder sogar in einem vermerkten Einzelfall gebot und an eine Verheissung koppelte.
Sicherlich schon früher, aber spätestens zur "Mormon Reformation" 1853 unter Brigham Young, änderte sich dieser Status der Empfehlung tatsächlich hin zu einem Gebot, das eben die bekannten fünf Substanzen auch der Kirchenräson unterwarf.
Da das Wort der Weisheit aber das tägliche Leben eines Mormonen sehr stark bestimmt, fragte man sich wohl irgendwann, was denn an Kaffee eigentlich das Problem sei und entschied wohl, dass es unter anderem auch das Koffein sein müsse, welches ja bekanntlich auch in Coca Cola vorkomme, welche seitdem auch zumindest tabu ist. Eine ähnliche Logik findet sich auch bei allen Speisen in denen Restbestandteile von Kaffee, Alkohol (auch als Aroma) oder Tabak und sei es auch nur in geringsen Mengen vorkommen.
Wir haben hier also heute faktisch in Kraft die Ableitung von der Ableitung von der Ableitung von der ursprünglichen Idee einer kulturellen Begebenheit im Amerika des 19 Jahrhunderts.

Und ich sehe dies und viele viele andere Dinge (völlig unreflektiert und mit gerührtem Geschluchze untermalt in Sonntagsschulen und Abendmahlsversammlungen kommuniziert) und wende mich entsetzt und angewidert ab.
Zum Beipiel geht das mit der Verzerrung von Wahrheit bei ihrer mehrmaligen Ableitung vom tatsächlich Geschehenen so
- bei der heutig opportunen Betrachtung der Kirchengeschichte
- bei der heutig opportunen Lehre
- bei der Herleitung des Ursprungs des Buches Mormon
- bei der Definition von Vollmacht, verbindliche Aussagen für die Kirche zu treffen
- bei glaubensstärkenden Geschichten
und anderen Sachen.

Was ich jetzt schreibe kommt mir aus dem tiefen Herzen:
Auf diese Art und Weise zwischen Mythen und Verzerrungen und meiner grundsätzlichen Ablehnung substanzieller Kirchenlehren auf der einen Seite und meiner aufrichtien Zuneigung zu den Mitgliedern und dem Wunsch nach geistiger Erbauung auf der einen Seite hin- und hergerissen, hatte mir tiefen seelischen und bisweilen sogar physischen Schmerz bereitet.

Und das spare ich mir lieber.
Alea iacta est!

Von daher bewundere ich Deine Fähigkeit, darüber hinweg sehen zu können, dass die Gründer und ersten Führer Deiner Kirche eigentlich doch so völlig frech Geschichten erfanden, die Jahrhunderte später immernoch von den Mitgliedern ihrer Kirche für bare Münze genommen werden.

Liebe Grüsse,
Henning

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