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Verfasser: SvenB
Datum: Mittwoch, den 5. Oktober 2005, um 12:14 Uhr
Betrifft: Amerikas neue Religiosität lehrt Mormonen vermutlich das Fürchten

Ein Hammer-Artikel!

Aus dem SZ-Magazin #39:

BETEN BIS ZUM UMFALLEN

Während US-Präsident Bush radikale Islamisten bekämpft, wird Amerika zum christlichen Gottesstaat.

von Lars Jensen

Wie an jedem Sonntagmorgen um kurz vor neun Uhr stauen sich die Autos rund um die New Life Church in Colorado Springs in alle Richtungen. Der erste von drei Gottesdiensten wird gleich beginnen. 8000 Evangelikale stellen ihre Autos vor der Kirche ab, besorgen sich Muffins und Cappuccino im Foyer, wo die Kaffeehauskette Starbucks eine Filiale eröffnet hat. Die Gläubigen drängeln sich wie Fußballfans am Wurststand. Bevor sie in ihre Muffins beißen, falten die Christen ihre Hände und danken Gott fürs Gebäck.

Das Publikum der New Life Church besteht aus den wohlhabenden, weißen Familien, die in die neuen Eigenheimsiedlungen zwischen Denver und Colorado Springs zogen. Jungs, die in schlabbernden Jeans auf dem Parkplatz Skateboard fahren; ihre Schwestern in den Outfits von Gap und Calvin Klein. Die Eltern fahren in Jeeps vor, die meisten tragen Freizeitkleidung sowie Babys auf dem Arm. Es sind Leute wie der Immobilienmakler Ted Rausch, der sagt: »Ich bin New Life 1997 beigetreten. Seitdem hat sich der Umsatz meiner Firma verzehnfacht.« Die Atmosphäre im Foyer der Kirche unterscheidet sich nicht von der eines Einkaufszentrums – nur die Bronzeskulptur eines muskelbepackten Engels mit Schwert lässt
erahnen, dass man sich in einem Gebäude des Glaubens befindet.

Von außen wirkt die New Life Church, günstig an einer Autobahnausfahrt gelegen, wie ein Einkaufszentrum mit Sportplatz. Das Hauptgebäude ist ein sechseckiger Betonklotz mit bläulichem Stahl-dach. Daneben steht das World Prayer Center, zu dem die Gemeinde-mitglieder rund um die Uhr Zutritt haben. An Fahnenmasten wehen die Flaggen aller befreundeten Länder. Frankreich und Deutschland sind nicht dabei – dazu später mehr. Das neueste Gebäude ist die so genannte Pyramide: eine weiße Halle für kleinere Veranstaltungen mit bis zu 4000 Besuchern, drum herum Spielplätze, Sportanlagen und ein riesiger, frisch geteerter Parkplatz.

Alle zwei Tage eröffnet in Amerika eine Kirche, die so ähnlich aussieht wie New Life. Die Zahl dieser Riesenkirchen, so genannte Megachurches, mit mehr als 3000 Besuchern pro Sonntag stieg in den letzten 25 Jahren von 50 auf 880 – New Life belegt Platz 99 unter den Gotteshäusern mit den meisten Sitzplätzen. Den Rekord hält Starpastor Joel Osteen, der gerade in Houstons ehemaligem Stadion die Lakewood Church samt Fernsehstudio, Themenpark und Shoppingmall einweihte. Jede Woche empfängt er 100000 Menschen.

New Life gehört nicht zu den größten Kirchen des Evangelikalismus, doch sie ist die Heimat ihres wichtigsten Vordenkers. Pastor Ted Haggard, 49, ist Vorsitzender der National Association of Evangelicals (NAE), in der sich 45000 Kirchen vereinigt haben. Jeden Montag
telefoniert er mit Präsident Bush. Wenn wichtige Fragen anstehen, wird Haggard nach Washington eingeflogen. Als Bush den Irakkrieg oder Steuersenkungen plante, konsultierte er Haggard. Derzeit beraten die beiden über geeignete Kandidaten für die zwei vakanten Stellen am Obersten Gerichtshof. Deren Benennung wird Bushs folgenschwerstes innenpolitisches Erbe sein. Konservative Evangelikale bejubeln Bushs Vorschlag, John Roberts zum Vorsitzenden des neunköpfigen Gremiums zu machen. Haggard sagt: »Roberts ist ein wunderbarer Mann, der die Verfassung wörtlich nimmt und sie nicht interpretieren will.« Aus der Evangelikalensprache übersetzt bedeutet dieser Satz, dass Roberts die Ziele der Evangelikalen vertreten wird: gegen das Recht auf Abtreibung, gegen die Rechte der Homosexuellen, die Stammzellenforschung, die sozialen Sicherungssysteme, aber für ungehemmte Marktwirtschaft, für den Rückzug des Staates aus allen öffentlichen Belangen sowie die Verantwortung des Einzelnen für seine Geschicke. Ein Kandidat, den sich die Evangelikalen für die zweite freie Stelle im Gericht wünschen, heißt Larry Thompson und ist Vorstandsmitglied von Pepsi.

›Harper’s Magazine‹ nannte die New Life Church »Amerikas mächtigste Kirche« und Time wählte Haggard unter die 25 wichtigsten Evangelikalen in Amerika. Dessen Sätze beginnen oft mit der Phrase: »Weil ich 35 Millionen Christen repräsentiere, kann ich Ihnen sagen…« Keine Lobbygruppe hat in Washington mehr Einfluss als die NAE. Bush selbst ist Mitglied und verdankt der Organisation beide Wahlsiege. Zur letzten Wahl funktionierten die Pastoren ihre Kirchen in republikanische Registrierungsbüros um. Bushs Berater Karl Rove koordinierte vom Weißen Haus aus. Und wenn die beiden neuen Richter im Amt sind, ist ein Ziel der religiös-konservativen Revolution erreicht: Die christlichen Vereinigungen werden die Gerichte mit Klagen überziehen und sie zwingen, unerwünschte Urteile neu zu verhandeln. »Wir wollen zuerst alle Sprüche anfechten, die Frauen das Recht auf Abtreibung geben. Dann gehen wir die anderen Probleme an«, sagt Haggard.

Ein Gottesdienst in der New Life Church beginnt mit einem Rockkonzert der Band The Mill. In der Mitte des Saals steht eine Bühne, darüber hängt ein Videowürfel mit den Texten zum Mitsingen. Die Gruppe besteht aus zwölf Musikern, die aussehen wie einem Pepsi-Spot entstiegen; die Musik: der kleinste gemeinsame Nenner aus Countryrock, R&B und GrungeRock. 8000 Gläubige werfen die Hände ekstatisch in die Luft, springen in den Sitzreihen umher und singen mit: »Oh, Lord, You are my saviour!« Bald kauern Gläubige in den Gängen: Es sieht aus wie in einer Moschee.

Als Pastor Haggard die Bühne besteigt, wird er gefeiert, als sei er Mick Jagger. Mit launigen Worten beginnt er: »Für diejenigen unter euch, die fett sind, habe ich mir eine Diät ausgedacht – die Mountain-Dew-Diät.« Dabei zeigt er in Richtung Videowürfel, wo ein von der Kirche produzierter Werbespot für Mountain Dew läuft, eine Limonade des Pepsi-Konzerns. Die Handlung: Haggard geht mit der Baseballkeule auf einen Autofahrer los, um ihn der Limonade zu berauben.

Der Pastor lacht durchgehend. Sein Gesicht und seine Bewegungen strahlen Gesundheit und Kraft aus – schließlich stammt er von einer Farm in Indiana. Am Gürtel hängen zwei Mobiltelefone und in der Hand hält er einen Minicomputer, von dem er die Predigt abliest. An diesem Morgen trägt die Predigt den Titel »Born To Win« – Haggard referiert über eine Passage aus dem Brief des Paulus an die Epheser: Paulus empfiehlt armen Bauern, sich neue Fähigkeiten anzueignen, damit sie ihre Familien ernähren können. Der Pastor leitet daraus ab: »Paulus will, dass wir in der globalisierten Marktwirtschaft Erfolg haben!« Die Gemeinde grölt »Amen!«. Später frage ich Haggard, ob er in einer ärmeren Gemeinde – etwa der Innenstadt von Detroit – genauso predigen würde. Er antwortet: »Unsere Musik würde nach Gospel klingen, weil wir afroamerikanische Zuhörer hätten, und ich würde mit mehr Singsang predigen. Aber die Bot-schaft wäre die gleiche: Gott hilft dem, der sich selber hilft. Warum sollen wir von den Reichen stehlen, um es den Armen zu geben? Dann hätten wir Verhältnisse wie bei euch in Deutschland.«

Die Schätzungen darüber, wie viele Amerikaner sich als »evangelikale Christen« bezeichnen, schwanken zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung, was etwa 60 bis 90 Millionen Menschen entspricht (zum Vergleich: George W. Bush bekam bei der letzten Wahl 57 Millionen Stimmen). Die genaue Zahl ist auch deswegen schwer festzustellen, weil niemand definieren kann, was ein »evangelikaler Christ« genau ist. Mit den Protestanten in Deutschland haben sie wenig gemein: Unsere Kirchen sind genormte Staatsbetriebe, amerikanische Pastoren können ihre Kirchen managen wie ein Unternehmen. Die Nazarener, Methodisten, Baptisten, Freikirchler, Presbyterianer, Wesleyaner und tausende von Kleinstreligionen sind in der NAE zusammengeschlossen. Innerhalb dieses Glaubens existieren Gruppen, die sich politisch nicht äußern, neben liberalen Strömungen, die die Demokraten unterstützen. Jimmy Carter bezeichnet sich als Evangelikalen wie George W. Bush und ein großer Teil der Führungselite in der Republikanischen Partei. Bill Frist, Mehrheitsführer im Senat, und Tom DeLay, Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, halten ihre wichtigsten Reden in Megachurches und lassen sie von evangelikalen Fernsehstationen übertragen.

Im 18. Jahrhundert brachten englische Missionare erstmals evangelikale Ideen nach Amerika. Sie forderten das wörtliche Verständnis der Heiligen Schrift: »Wir sind den Lehren von Jesus Christus verpflichtet. Was die Bibel verkündet, ist unser Gesetz«, sagte zum Beispiel John Wesley, der Begründer des Methodismus. Der Religionswissenschaftler Larry Eskridge erforscht den modernen Evangelikalismus und meint, es sei unmöglich, die Evangelikalen einheitlich zu charakterisieren. »Nur dies haben alle gemein: die Konvertierung. Du bist ein Sünder und durch Erleuchtung entledigst du dich dieser Sünde, um wiedergeboren zu werden.« Deswegen nennt sich ein großer Teil der Evangelikalen auch »wiedergeboren«.

Bis in die Sechziger hat sich die evangelikale Kirche gegenüber der Politik gleichgültig verhalten. Doch dann bekam sie Zulauf von allen, die sich durch die gesellschaftlichen Veränderungen überfordert fühlten. Eskridge sagt: »Damals brach ein tiefer Graben in unserer Gesellschaft auf. Viele Leute waren nicht für freien Sex und Drogen und sie wollten ihre Kinder davor schützen. Dieser gesellschaftliche Schutzreflex hat sich zu einem aggressiven Aktionismus gegen alles Liberale entwickelt.« Allerdings bedienen sich die Evangelikalen der Stilmittel ihrer Gegner: Sie nutzen Popmusik, Filme und das Internet, um jungen Leuten ihre Botschaften zu vermitteln.
Ted Haggard kam 1984 nach Colorado Springs, weil er diese Gegend in der geografischen Mitte Amerikas am Rande der Rocky Mountains als spirituellen Ort empfand. Seine Vision war es, Colorado Springs zum Vatikan der evangelikalen Bewegung auszubauen: »Ich habe das Internet-Gebet vorausgesehen, bevor es das Internet gab.« In einem Keller hielt er seinen ersten Gottesdienst vor 25 Leuten ab. Werbung trieb er an den Orten des Teufels: In Schwulenbars, Bordellen, Discos las er die »Suchenden« auf. Nachdem eine Frau Haggard mit einem Messer anfiel und behauptete, der Teufel habe sie geschickt, ließ er die Anekdote in der Stadt verbreiten und am nächsten Sonntag hatte er zehnmal so viele Zuhörer wie zuvor.

Eines Tages spazierte er über Wiesen und Felder und deutete auf eine Parzelle an der Autobahn: »Hier wird meine Kirche entstehen.« An dieser Stelle befindet sich heute das World Prayer Center. Von dessen Gebetsraum aus schaut man durch eine Panoramascheibe auf die Rocky Mountains. Rechts am Hang die Air Force Academy, wo alle amerikanischen Kampfflieger ausgebildet werden (die Academy war in den letzten Monaten nicht nur wegen sexueller Übergriffe in den Schlagzeilen, sondern auch wegen Diskriminierung von Nicht-Christen). Links davon Fabriken von Lockheed Martin und Northrop, den beiden wichtigsten Kampfjet-Herstellern. Am Himmel steigen Jagdflugzeuge auf. Dieses Panorama wird ergänzt durch eine fünf Meter große Weltkugel, die sich vor dem Fenster dreht. Flachbildschirme an den Wänden zeigen die Gebete, die Besucher von hier aus per Internet in die Welt schicken: »Ich habe Krebs. Niemand hilft mir, bitte betet für mich«, steht da. Oder: »Betet für die Muslime im Irak, dass sie den Weg zu Jesus finden.«

Der Irakkrieg: Pastor Ted bekommt feurige Augen, wenn er drüber spricht: »Amerika kämpft mal wieder gegen Tyrannen. Was Deutschland und Frankreich sich geleistet haben, wird von den Leuten, die ich vertrete, verachtet. Das hat einer Generation Amerikaner die Augen geöffnet. Wir ziehen unsere Truppen bei euch ab und bringen sie in die Ukraine und nach Polen zu Leuten, auf die wir uns verlassen können. Die nächste Generation Amerikaner wird anders mit euch umgehen.« Haben Sie deswegen die deutsche Flagge eingerollt? »Ganz genau!« Seine drei Kinder hat Haggard lieber nicht in den Irak geschickt, sondern auf kalifornische Privatschulen.

Der Aufstieg von Haggards Kirche vom Kellerclub zum Millionenunternehmen ist beispielhaft dafür, wie der moderne Evangelikalismus arbeitet. Die Grundlage für die Strategien aller Megachurches stammt aus dem Buch ›The Bridges Of God‹ des Missionars Donald McGavran aus dem Jahre 1955. Seine Ideen entwickelte McGavran in Indien: Hemmschwellen gegenüber der Kirche abbauen; die Leute umgarnen, als seien sie Kunden.

Megachurches sehen aus wie Einkaufszentren, weil sie genauso funktionieren. Der Kunde soll mit dem Auto anfahren können; das Gebäude muss unfeierlich aussehen, denn die Leute, die hier ihr Geld abliefern, wünschen keine prunkvollen Gotteshäuser. Auch religiöse Symbole sollte man vermeiden, denn Obrigkeit lehnt der Kirchgänger ab. Der Pastor muss als Kumpeltyp auftreten, der den Leuten erzählt, was sie hören wollen. So predigt Haggard, es sei Jesu Wunsch, dass Amerikaner kaum Steuern zahlen, die Sozialversicherungen abschaffen und den Irak angreifen. Nach dem Tsunami in Asien erklärte er der Denver Post: »Es ist erstaunlich, was der Herrgott mit Seinem Meer getan hat: Er zerstörte das größte islamische Land, den wichtigsten Exporteur von Terroristen.« Inzwischen zerstörte der Herrgott mit seinem Wind die amerikanische Stadt New Orleans und Haggard kann sich das nicht erklären. Er ignoriert mehrere Bitten um Rückruf zu diesem Thema. Immerhin, wird er sich sagen, starben vor allem die Armen, die Nichtsnutze, während die Leistungsstarken sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.

Es geht beim Evangelikalismus auch um eine Menge Geld. Die Branche setzt laut ›Business Week‹ im Jahr 22 Milliarden Dollar um. In einer Titelgeschichte beschreibt das Magazin einen Kulturkampf, der die US-Industrie erfasst hat. Unternehmen wie Microsoft, General Electric, Procter & Gamble oder Kraft leiden unter evangelikalen Lobbygruppen, die sowohl von innen als auch von außen Einfluss auf die Firmen nehmen. So zwang eine örtliche Megachurch in Seattle Microsoft dazu, ein offenes Bekenntnis zu schwulen Mitarbeitern zurückzunehmen. Das Idol aller Pastoren ist Rick Warren von der Saddleback Church in Kalifornien. Bevor er seine Kirche gründete, stimmte er ihr Programm per Marktforschung auf den Kunden ab. Sein Buch The Purpose-Driven Life verkaufte sich seit 2002 weltweit 25 Millionen Mal. 30000 Kirchen in Amerika bezeichnen sich als »purpose-driven«, also »dem Zweck nach ausgerichtet«, und predigen Warrens Buch gleichberechtigt neben der Bibel.

Auch der demografische Wandel hilft den Evangelikalen. Seit Mitte der Neunziger boomen die Exurbs – so heißen die Vororte der Vororte. Diese endlosen Eigenheimsiedlungen verfügen weder über eine Anbindung an eine Stadt noch über eine Infrastruktur. Bars, Kinos, Theater gibt es nicht, also übernehmen die Kirchen die Freizeitgestaltung. Bei der Präsidentschaftswahl von 2004 stimmten von den hundert am schnellsten wachsenden Ortschaften Amerikas – allesamt Exurbs – 97 für Bush. Städte wie Crabapple in Georgia oder Surprise in Arizona sind nun größer als St. Louis. Colorado Springs wuchs auf 200 000 Einwohner an.

Neben der Air Force Academy sind die Evangelikalen in Colorado Springs der größte Arbeitgeber. Die Stadt ist der Sitz von vielen einflussreichen Lobbygruppen wie Young Life, Navigators, Compassion International, doch die berühmteste Firma ist Dr. James Dobsons »Focus on the Family«. Auf einem Hügel nahe der New Life Church befindet sich der neue Campus für 2000 Mitarbeiter, der auch gleichzeitig als Kirche und Wallfahrtsort für Abtreibungsgegner dient. Oft kommen 3000 Dobson-Fans am Tag. Von hier aus steuert der Prediger sein Imperium aus TV- und Radiosendern, Verlagen und Internetangeboten. 200 Millionen Menschen hören seine Radioansprachen – die populärste Sendung weltweit. Nun konzentriert sich Dobson, den die Familien Reagan und Bush als einen ihrer engsten Freunde bezeichnen, auf das nächste große Projekt: Die amerikanischen Schulen sollen die Schöpfungstheorie gleichberechtigt mit der Evolutionstheorie lehren. Erste Erfolge gibt es aus Kansas und Kentucky zu vermelden. Im Radio sagt Dobson, Gallup habe bei einer Umfrage ermittelt, dass 52 Prozent der Amerikaner glauben, die Welt sei nicht älter als 5000 Jahre.

In diesem Umfeld floriert Haggards Kirche. Ihre Struktur ist wie die eines Franchise-Unternehmens ausgelegt, kann also unendlich wachsen, ohne dass Haggard mehr Arbeit hätte. 120 Angestellte erledigen die Administration; die Gemeindearbeit leisten die 1300 Führer der Kleingruppen vollkommen unabhängig. Es gibt Gruppen für Pediküre/Maniküre, Bowling, Ballett oder für Diskussionen über das Evangelikalentum in Kirgistan. Die Gruppenführer melden Probleme an die Obergruppenführer, die wiederum einem der achtzig Pastoren unterstellt sind. Haggard sagt: »Es kommt fast nie vor, dass ich mit Problemen angerufen werde. Ich wünschte, die ganze Welt wäre wie Colorado Springs.«

In einem Essay beschreibt der protestantische Religionskritiker Bill McKibben die Bigotterie des modernen Evangelikalismus: »Wir Amerikaner halten uns für die gläubigsten Menschen auf der Welt. Aber wir tun das Gegenteil dessen, was die Bibel empfiehlt. In den Kategorien Jugendschwangerschaft, Abtreibungsrate, Armut, Gewalt, Kriminalität, Scheidungen liegen wir unter den Industrienationen vorn. Bei Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Bildung, persönlicher Disziplin (Konsum, Ernährung, Drogen) sind wir Schluss-licht. Länder wie Schweden, Deutschland, Holland, die wir als gottlos ansehen, handeln in jeder Hinsicht christlicher als wir. Amerikaner haben die Bibel zu einer Art Selbsthilferatgeber umfunktioniert.«

Nach einem seiner Gottesdienste sitzen Ted und ich am Konferenztisch in seinem Büro. Ein Mann klopft mit verheulten Augen an die Glastür. Sein Bruder sei in der Nacht überraschend gestorben und nun wisse er nicht, wie er die Schwägerin trösten solle. Haggard sagt: »Sehr traurig. Geh am besten runter in den Buchladen und schau in der Abteilung ›Teds Empfehlungen‹ nach meinem Buch ›Simple Prayers for a Powerful Life‹.« Der Mann bedankt sich. Pastor Ted setzt sich wieder in seinen Ledersessel und lächelt: »Es kommt selten vor, dass mich jemand so persönlich mit seinen Sorgen anspricht.«

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