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Verfasser: Renate
Datum: Donnerstag, den 22. Juli 2004, um 0:36 Uhr
Betrifft: Elias Canetti - "Masse und Macht"

Hier einige Auszüge aus dem Buch "Masse und Macht" von Elias Canetti, in dem ich gerade lese. Ich finde, sie passen gerade zu den letzten Beiträgen und auch zu der Diskussion die im JAE-Board läuft. Meine Einfügungen sind in (Klammern) gesetzt.
Ausbruch:

Der eigentümliche Zustand, in den ihre (der geschlossenen Masse) Teilnehmer oft gerieten, schien etwas Natürliches; immer war man zu einem bestimmten Zweck beisammen, sei es religiöser, festlicher oder kriegerischer Art, und der Zweck schien den Zustand zu heiligen. Wer einer Predigt beiwohnte, war gewiss im guten Glauben, dass es ihm auf die Predigt ankam, und er wäre erstaunt und vielleicht auch empört gewesen, hätte ihm jemand auseinandergesetzt, dass die große Zahl der anwesenden Hörer ihm mehr Befriedigung gewähre als die Predigt selbst. Alle Zeremonien und Regeln, die zu solchen Institutionen gehören, haben es im Grunde auf ein Abfangen der Masse abgesehen: Lieber eine sichere Kirche voll von Gläubigen als die unsichere ganze Welt. In der Gleichmäßigkeit des Kirchenbesuches, der vertrauten und genauen Wiederholung bestimmter Riten sichert man der Masse etwas wie ein gezähmtes Erlebnis ihrer selbst. Der Ablauf dieser Verrichtungen zu festgesetzten Zeiten wird zu einem Ersatz für Bedürfnisse härterer und heftigerer Art.

Verfolgungsgefühl:

Zu den auffallendsten Zügen im Leben der Masse gehört etwas, was man als ein Gefühl von Verfolgtheit bezeichnen könnte, eine besondere, zornige Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen ein für allemal als solche designierte Feinde. Diese können unternehmen, was immer sie wollen, sie können scharf vorgehen oder entgegenkommend, teilnahmsvoll oder kalt sein, hart oder milde - alles wird ihnen so ausgelegt, als ob es einer unerschütterlichen Böswilligkeit entspringe, einer schlechten Gesinnung gegen die Masse, einer vorgefassten Absicht, sie offen oder heimtückisch zu zerstören.

(Canetti erklärt das damit, dass die Masse - einmal enstanden - rapide wachsen will und deshalb alles, was sich ihr entgegenstellt, als Einengung, als Bedrohung empfindet. Der äußere offensichtliche Angriff auf die Masse stärkt diese aber nur, sie fühlt sich dadurch mehr verbunden und stärker, der innere stille Angriff wird von der Masse als "unmoralisch" empfunden, da er ihrer "klaren und sauberen Gesinnung" entgegenläuft.)

Jeder, der zu einer solchen Masse gehört, trägt einen kleinen Verräter in sich, der essen, trinken, lieben und seine Ruhe haben will. Solange er diese Verrichtungen nebenher besorgt und nicht zu viel Wesens aus ihnen macht, lässt man ihn gewähren. Sobald er sich aber laut vernehmlich macht, beginnt man ihn zu hassen und zu fürchten. Man weiß dann, dass er die Lockungen des Feindes gehört hat.

Weltreligionen:

Ein Gefühl für die Tücken der Masse liegt den historischen Weltreligionen sozusagen im Blut. Ihre eigenen Traditionen, die verbindlichen Charakter haben, belehren sie darüber, wie plötzlich und unerwartet sie gewachsen sind. Ihre Geschichten von Massenbekehrungen erscheinen ihnen wunderbar, und sie sind es. In den Abfallbewegungen, die die Kirchen fürchten und verfolgen, richtet sich dieselbe Art von Wunder gegen sie, und die Verletzungen, die ihnen so am eigenen Leib zugefügt werden, sind schmerzlich und unvergesslich. Beides, das rapide Wachstum in ihrer Frühzeit und die nicht weniger rapiden Abfälle später, erhalten ihr Misstrauen gegen die Masse immer am Leben. Was sie sich wünschen, ist im Gegensatz zu dieser eine folgsame Herde. Es ist üblich die Gläubigen als Schafe zu betrachten und für ihren Gehorsam zu loben. Auf die wesentliche Tendenz der Masse, nämlich zu raschem Wachstum, verzichten sie ganz. Sie begnügen sich mit einer zeitweiligen Fiktion von Gleichheit unter den Gläubigen, die aber nie zu streng durchgeführt wird; mit einer bestimmten Dichte, die in gemäßigten
Grenzen gehalten wird, und einer starken Richtung. Das Ziel setzen sie gern in eine sehr weite Ferne, ein Jenseits, in das man gar nicht gleich hineinkommen soll, da man noch lebt, und das man sich durch viel Bemühungen und Unterwerfungen verdienen muss. Die Richtung wird allmählich das Wichtigste. Je ferner das Ziel, um so mehr hat es Aussicht auf Bestand. An die Stelle jenes anderen, scheinbar unerlässlichen Prinzips des Wachstums wird etwas davon ganz Verschiedenes gesetzt: Die Wiederholung.

In bestimmten Räumen, zu bestimmten Zeiten werden die Gläubigen versammelt und durch immer gleiche Verrichtungen in einen gemilderten Massenzustand versetzt, der sie beeindruckt ohne gefährlich zu werden und an den sie sich gewöhnen. Das Gefühl ihrer Einheit wird ihnen dosiert verabreicht. Von der Richtigkeit dieser Dosierung hängt der Bestand der Kirche ab. Wo immer Menschen sich an dieses präzis wiederholte und präzis begrenzte Erlebnis in ihren Kirchen und Tempeln gewöhnt haben, können sie es nicht mehr entbehren. Sie sind darauf angewiesen wie auf Nahrung und alles, was sonst ihr Dasein ausmacht. Ein plötzliches Verbot ihres Kultes, die Unterdrückung ihrer Religion durch ein staatliches Edikt kann nicht ohne Folgen bleiben.

Elias Canetti - "Masse und Macht" (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt
am Main 1980) - ISBN: 3 -596-26544-4

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