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Verfasser: Renate
Datum: Donnerstag, den 15. April 2004, um 14:34 Uhr
Betrifft: Das ist völlig normal;-)

Hallo Anja,

ja, das gehört alles zum Loslösungsprozess. Auch dass dir der hier manchmal sarkastische oder ironische Unterton weh tut. Sarkasmus ist eigentlich etwas, das seine Wurzel in einem ziemlich starken Gefühlszustand hat. Er ist ein Zeichen von Verletztheit und Wut. Er ist auch eine Art Schutz, durch den man sich selbst verdeutlichen will, dass man mit einer großen Enttäuschung abgeschlossen hat. Nur funktioniert das meist nicht so einfach, wie man hofft.

Auch der Zweifel, dass man vielleicht doch auf der falschen Seite gelandet sein könnte ist normal. (Versuchung Satans) Dazu das schlechte Gewissen, weil einem doch so lange eingeredet wurde, wie falsch es ist und was es für Folgen haben wird, sich von der Kirche abzuwenden. Segensverlust, Verzweiflung, Zukunftsangst und die drohende Strafe der ewigen Verdammnis, der Verlust von Freunden und/oder der Familie. Ein wichtiger Lebensabschnitt wurde beendet. Nicht weil man es wollte, weil es sich so entwickelt hat, sondern aufgrund der Erkenntnis betrogen worden zu sein. Also gezwungenermaßen, wenn man sich nicht weiter selbst belügen will.

Das Leben außerhalb einer Sekte, die einen beherrscht, die einen Sicherheit und Geborgenheit vorgegaukelt hat, ist anfangs völlig fremd. Man trägt plötzlich selbst Verantwortung für alle Entscheidungen und derer gibt es tagtäglich sehr viele und niemand sagt einem, welche die richtige ist. Man muss erst lernen, was Kinder während ihres Erwachsenwerdens automatisch durch das Vorbild und die Unterstützung der Eltern lernen, nämlich dass es nicht nur "schwarz und weiss" gibt, sondern unzählige Grauschattierungen dazwischen, dass man Fehler machen darf und nicht gleich dafür bestraft wird, sondern daraus hoffentlich lernt, dass man Liebe und Freundschaft nicht verliert, nur weil man seinen eigenen Weg geht, dass man gegensätzliche Meinungen als gleichwertig betrachten und aus ihnen lernen kann, ohne sie deshalb annehmen oder verurteilen zu müssen, etc...

Und ja, es gibt ein Rezept gegen diese Zweifel und die Unsicherheit das Richtige zu tun - du hast es schon erkannt. Sich über die Fakten zu informieren, selbst überprüfen und zwar so lange und so gründlich, bis alle Zweifel ausgeräumt sind. Das kann verschieden lange dauern, es kommt darauf an wie stark man in die Kirche involviert war. Anfangs wird man vielleicht täglich viel Zeit dafür investieren, später verliert es an Priorität, weil Anderes wichtiger wird.

> Wieso ist das so? Wieso tut es mir immer noch weh, wenn jemand über Joseph Smith schimpft, obwohl ich ihn für einen der größten und übelsten Betrüger der Geschichte halte? Wieso habe ich immer noch spontan das Gefühl, die Mormonensekte verteidigen zu müssen, wenn jemand sie eine Sekte nennt?

Weil du dich einmal voll mit ihr identifiziert hast, weil du dein ganzes Vertrauen geschenkt hast, weil du überzeugt warst die Wahrheit und den richtigen Weg gefunden zu haben, weil es viele glückliche Stunden in der Kirche gegeben hat, weil du positive Gefühle, wie Geborgenheit, Angenommensein, das Richtige zu tun, etc., mit der Kirche verbindest. Wenn man so vertraut hat, so überzeugt von etwas war, dann tut Enttäuschung immer bitter weh und es braucht lange Zeit bis man das verarbeitet hat. Es ist wie bei einer Liebe, die man verloren hat. Man weiß, es gibt kein Zurück, man weiß aber auch, dass es einmal schön war und man muss akzeptieren lernen, dass man die Zeit nicht zurück drehen kann. Das tut weh und da muss man durch, einen anderen Weg gibt es nicht. Es hat nichts mit Segensverlust, nichts mit Verbitterung oder Reue zu tun, es geht dabei nur um die Akzeptanz der Fakten, die man nicht verleugnen kann, auch wenn man sich noch so sehr wünscht, es würde sie nicht geben.

> Wenn ich hier lese, hab ich den Eindruck, daß alle, die hier schreiben, mir im Loslösungsprozeß um Jahre voraus sind. ?

Das ist ganz individuell und gerade der Sarkasmus oder die Ironie zeigen, dass es da noch einen Kampf mit sich selbst gibt, dass man noch nicht ganz loslassen kann. Bei mir ist es die Wut, die entsteht, wenn ich verzweifelte Aussteiger erlebe, die die Schuld nur bei sich selbst suchen und/oder die durch ihre Mitgliedschaft unwiederbringlich viel verloren haben.

> Wie lange habt Ihr gebraucht, um die Gehirnwäsche zu überwinden?

Mir haben die sachlichen Bemerkungen von Außenstehenden die Augen geöffnet. Auch wenn ich das anfangs noch nicht wahrhaben wollte, aber die rosarote Brille war weg und dann hat die Neugier gesiegt. Ich habe mich mit den Fakten beschäftigt. Da ich damals aber schon - wenn auch aus anderen Gründen - inaktiv war, war es sicher leichter für mich, als für diejenigen, die voll aktiv dabei waren. Da meine Kirchenerfahrung außerdem fast durchwegs positiv ist, sehe ich jetzt auch nicht nur Negatives in ihr. Und ich stehe zu meinen schönen Erinnerungen an diese Zeit. Auch habe ich die Erfahrung gemacht, dass es für einige Menschen genau richtig ist HLT zu sein und wenn sie in der Kirche wirklich glücklich sind, dann sollen sie auch dort bleiben. Nicht alles, was mit der Kirche zu tun hat, ist schlecht. Wenn man oberflächliche Geborgenheit, die Vorgaukelung von Wichtigkeit, Elitezugehörigkeit und vorgeschriebene Richtlinien für den Lebensweg braucht, wenn man nichts hinterfragen und keine genauen Infos will, dann ist man dort gut aufgehoben. Das meine ich jetzt nicht ironisch, sondern ganz ernst, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, die das brauchen um glücklich leben zu können.

> Kommt man da irgendwann ganz raus? Was hat Euch dabei geholfen?

Ja, dann wenn man die Fakten voll akzeptiert und sich dem Schmerz den die Lücke im Leben, erstmal mit sich bringt, stellt. Ich habe in den letzten fünf Jahren unzählige Aussagen dazu von Aussteigern miterlebt. Obwohl diese Ausstiege individuell und aus den verschiedensten Gründen stattgefunden haben, die Konfrontation mit den Fakten über die Kirche wirft erstmal jeden um, der ein ernsthaftes Mitglied war. Allen gleich ist daher immer die Enttäuschung mit all ihren Nebeneffekten, wie Wut über sich selbst, wegen zu viel Blauäugigkeit, Wut auf die Organisation, weil sie bewusst betrügt, Trauer um das Verlorene, weil es einem viel bedeutet hat, extreme Distanzierung zur Kirche, ja sogar Hass. Das alles ist normal, wenn es verarbeitet und nicht verdrängt wird. Irgendwann wird man der Sache ziemlich neutral gegenüber stehen, was die eigene Vergangenheit betrifft. Man wird die positiven Erinnerungen an die Kirchenzeit zulassen können, man wird zwischen den Mitgliedern und der Organisation unterscheiden lernen, die einen verstehen und über die andere aufklärend wirken, aber die gesamte Thematik wird nicht mehr den Alltag und schon gar nicht das Leben beherrschen. Es gibt so viel Interessanteres und Wichtigeres.:-)

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