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Verfasser: Gunar
Datum: Samstag, den 7. Februar 2004, um 5:54 Uhr
Betrifft: Peepstone Joe im wilden Polen

Süddeutsche Zeitung
07.02.2004 

Mission Wilder Osten

Mormonen und Buddhisten in Polen / Von Gernot Wolfram

Die polnische Sprache klingt bei dem Mormonen-Missionar John wie ein aufgeregtes Krähen. Seit Tagen wandert der ständig lächelnde Australier mit seinen in dicke Anoraks gehüllten Kameraden über den Marktplatz von Breslau. Sie teilen sich den Platz mit den Zeugen Jehovas und den Tafelträgern der polnischen Telekom. John spricht Menschen an, von denen er meint, sie wären des Kontakts mit dem Buch Mormon dringend bedürftig. Als ich die Straße von der Universität hoch laufe, kommt er mir entgegen, erst hektisch polnisch, dann englisch auf mich einredend. John fragt mich, was ich in Polen mache. Ich antworte ihm, dass ich hier ein Jahr lang an der Universität unterrichte. Dann sei ich wohl mit einer Menge junger Menschen in Verbindung?

John ist einer von vielen Missionaren der Mormonen, die im Moment durch Polen ziehen. Von Amerika oder Australien aus werden diese Einsätze konzipiert und finanziert. Das didaktische Material wird einfach ins Polnische übersetzt – man gibt jungen Polen die Übersetzungsaufträge – und mit lautem Enthusiasmus werden die Schriften dann unter die Leute gebracht. John erzählt auf dem Marktplatz die Geschichte vom „genialen Propheten der Neuzeit“ Joseph Smith, der 1830 die „einzig wahre Kirche Christi auf Erden“ in Amerika gründete. Was er nicht erzählt ist, dass Smith, der 1822 in Vermont angeblich einen mysteriösen Seherstein gefunden und fortan in seinem Hut getragen hatte, zu seiner Zeit spöttisch als „Peepstone Joe“ bezeichnet wurde. Ebenso lässt er die hübsche Tatsache unter den Tisch fallen, dass Smith mit immerhin achtundvierzig Frauen in leidenschaftlicher Intimität seinen Glauben lebte.

Was jedoch auffällt, ist die Perspektive, die John mitbringt. Sie ist symptomatisch für viele Kirchen und Sekten, die im Moment mit Beglückungsplänen für die Einheimischen nach Polen kommen: das Land wird als ein weites Eldorado gesehen, in dem noch immer alles möglich ist. Ein Land für große mentale Eroberungen. Mit der Begeisterung einer Füllhornausschüttung werden bunte Broschüren verteilt, Einladungen vergeben, Kirchen und Betsäle eingerichtet. Da jedoch zwischenzeitlich die Polen skeptischer gegenüber der Werbung um ihre Aufmerksamkeit geworden sind, heißt es für die meisten Missionseifrigen, neue Wege einschlagen. Die Mormonen in Polen haben sich dabei die vielleicht cleverste Idee einfallen lassen, um mehr Einfluss und Macht zu gewinnen.

John sagt mir, dass ich meinen Studenten ausrichten solle, sie könnten in dem Mormonen-Büro kostenlos Englisch lernen, zweimal die Woche. Angesichts der begehrten, immer teurer werdenden Sprachschulen, die in Breslau wie Pilze aus dem Boden schießen, sei das doch ein wunderbares Angebot. Das würden weder die Katholiken noch die Evangelischen noch irgendwer sonst bieten. In der Tat, denke ich, ist das raffiniert ausgeklügelt. Menschen wie John bringen mit ihrer unkomplizierten Art die englische Sprache unter die Leute und als Sauerteig des Unterrichts wird die Mormonen-Ideologie untergeschoben. Wer erst einmal bei den Mormonen Mitglied ist, darf zehn Prozent seines Gehaltes monatlich bei den Oberen seines Pfahls – so heißt die größere Gemeindestruktur – abgeben. Auf die Masse gesehen, wird hier mühelos mehr Geld eingenommen, als es über die üblichen Tarife einer Sprachschule überhaupt möglich wäre.

Doch nicht nur John ist in Polen unterwegs, um in dem Land, in dem es wöchentlich Streiks, Firmenpleiten, Finanzgezeter und dennoch so viel schönen Zukunftsoptimismus gibt, die Köpfe für sich zu gewinnen. Neuerdings haben auch die Buddhisten hier Fuß gefasst, allerdings ohne aggressiven Missionsdrang. Als ich einen Tag nach der Begegnung mit John in den Unterrichtsraum komme, entzündet die Studentin, die ein Referat über den Buddhismus in Polen halten soll, ein Rächerkerzchen. Um ihren Hals trägt sie eine gürtelartige orangefarbene Kette. Während sie spricht, merke ich, wie viel ihr die Idee eines aus der Stille gewonnenen Abstands von den Dingen bedeutet, die jetzt in Polen allgegenwärtig sind: ein Leben fernab des Geschreis der Großmärkte, der Werbeplakate und Leistungsstrategien. Als sie dann erzählt, dass die Breslauer Buddhisten aus eigenen Mitteln in der Nähe der Stadt demnächst eine Stupa bauen wollen, eine kleine Pagode zum Meditieren, stelle ich mir dieses irdene, spitz zulaufende Gebäude inmitten von Plattenbauten am Stadtrand vor.

Viele Studenten sagen mir, dass Leute wie John oder die Buddhisten lediglich kuriose Randerscheinungen ihrer Gesellschaft seien. Andererseits kann man gerade bei diesen Gruppen beobachten, wie geschickt sie sich in die unzähligen gesellschaftlichen Schattenzonen und Leerräume hineinbegeben. Bei vielen Polen, zumal bei den jüngeren, wächst das Gefühl, dass nicht jeder Job in einer Tankstelle oder einer Imbisskette zugleich innere Zufriedenheit und Sicherheit bedeutet. Das ist die Stunde der Marktplatz-Mission. Lächeln, Schulterklopfen, kostenlose Angebote, vermeintliches Interesse. Das Gefühl zu haben, als Mensch gemeint zu sein, wie es die Mormonen suggerieren, oder Ankunft zu erleben in einer Welt des Nicht-Mehr-Handeln-Müssens, wie es die Buddhisten propagieren, sind vielleicht zwei entscheidende Augenblicke einer zunehmenden Sehnsucht nach einer neuen Selbstvergewisserung.

„Weißt Du, hier gehen die Leute einfach noch nicht so viel zu den Psychologen“, hatte mir John beim Abschied augenzwinkernd gesagt. Ich grüble jetzt darüber, ob der lächelnde Mormone bei dieser Bemerkung eine Stärke oder eine Schwäche der Menschen im Blick hatte.

Der Autor publizierte zuletzt die Erzählungen „Der Fremdländer“ (DVA 2003).

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